Warum wir alle wütend sein sollten – ein Interview mit Mareike Fallwickl

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Homeoffice. Homeschooling. Keine Kinderbetreuung. Keine Kontakte. Das Leben begrenzt auf wenige oder, wer Glück hat, mehrere Quadratmeter. Draußen flattert Absperrband um die Spielplätze und drinnen postet jemand eine Kachel mit dem Satz „I’m a mum. What’s your superpower?“ Ein Satz, der auf verschiedenen Ebenen problematisch, in der Pandemie aber regelrecht zynisch ist. Was passieren kann, wenn eine Mutter keine Kraft mehr hat, nicht mal mehr für ein letztes Wort, erzählt uns die Autorin und Literaturvermittlerin Mareike Fallwickl in ihrem neuesten Roman. In DIE WUT, DIE BLEIBT (Amazon-Partnerlink*) fällt eine Mutter, fallen gelassen von der Gesellschaft, der Politik und ihrem Partner, nicht nur bildlich gesprochen – und mit ihr das gesamte Konstrukt, das sich Familie nennt.

Liebe Mareike, dein Roman DIE WUT, DIE BLEIBT startet gewaltig. Helene, Mutter von drei Kindern, steht beim Abendessen auf, geht zum Balkon und stürzt sich ohne ein Wort in den Tod. Eine Mutter, die sich dem Muttersein entzieht, und dann auch noch auf diese drastische Art und Weise, gleicht für viele einem Tabu. Gab es im Vorfeld Stimmen, die gesagt haben „Das kannst du nicht machen, das ist zu krass!“?

Nein, im Gegenteil – auf der Szene hat das Interesse der Verlage am Buch gegründet. Dass das krass ist, hat eher meine eigene innere Stimme gesagt, meist nachts um drei, wenn ich schweißgebadet aufgewacht bin. Aber dann hab ich jedes Mal gemerkt: Das ist das Tabu, das greift, und umso notwendiger ist es, dass ich es breche.

Als ich meinem Mann von dem Buch erzählte, war sein Kommentar „Uff, das ist verdammt hart! Warum liest man so etwas?“ Diese Frage würde ich gern direkt an dich weitergeben. Warum sollte man dein Buch lesen und warum wolltest du diese Geschichte unbedingt so erzählen?

Das Narrativ des Vaters, der sich entzieht, ist in der Literatur quasi auserzählt. Das kennen wir, das verzeihen wir. Hätte sich zu Beginn des Buchs ein Vater in der Scheune erschossen oder auf dem Dachboden erhängt, würde niemand den Roman als radikal bezeichnen. Und das ist genau der Punkt. Die Geschichte muss so erzählt werden, um darauf aufmerksam zu machen, wie unterschiedlich wir Menschen behandeln aufgrund ihres Geschlechts. Und genau deshalb sollte man sie auch lesen. Weil das uns alle betrifft.

Der Roman spielt während der Corona-Pandemie. Auch wenn Charaktere und Story fiktiv sind, ist dein Buch eine Art Zeitdokument. Wie wichtig ist die Pandemie für die Geschichte?

Die Pandemie ist im Hintergrund eingeflochten, weil sie seit zwei Jahren unsere Lebensrealität ist, aber sie ist nicht ausschlaggebend für die Handlung. Die Blitzidee zum Buch ist im Lockdown im Februar 2021 entstanden, als ich täglich Nachrichten bekommen habe von Frauen, die auch Mütter sind und mir geschrieben haben: „Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr, ich spring einfach vom Balkon.“ Da habe ich plötzlich gedacht: Was, wenn eine das wirklich tut? Wenn ich vom krassestmöglichen Punkt ausgehe und anfange zu erzählen, was geschieht dann, welche Geschichte entsteht? Also habe ich diesen hypothetischen Satz literarisch in die Tat umgesetzt.

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Stichwort „fiktiv“: Deine Charaktere sind so realistisch beschrieben, ihre Gedanken, Gefühle und Beobachtungen. Bestimmt haben sich schon Leserinnen bei dir gemeldet und gesagt „Hey, das bin doch ich!“

Ja. Die meisten finden sich darin wieder – in einer Figur oder in mehreren. Eine Nachricht hat mich dabei am meisten berührt, denn mir hat eine Frau geschrieben: „Ich bin Helene. Ich habe drei Kinder und hab während des Lockdowns versucht, mich umzubringen.“ Ihr Mann hat sie daraufhin alleingelassen. Sie hat mir geschildert, dass sie mein Buch liest – und teilweise ihren Kindern daraus vorliest, um mit ihnen über diese Themen zu sprechen. Ich bekomme immer noch Gänsehaut, wenn ich nur dran denke. Was für ein Heldinnenmut, sich dem eigenen Trauma auf diese Weise zu stellen.

Wir lernen in dem Buch Helene ein bisschen besser kennen. Im Fokus stehen aber ihre älteste Tochter Lola, die schon früh sehr emanzipiert und informiert ist, und Helenes beste Freundin Sarah, eine kinderlose Frau Ende dreißig, die sich emanzipierter fühlt, als sie tatsächlich ist. Was magst du an Lola und was würdest du ihr wünschen?

Lola ist inspiriert von echten jungen Frauen, die ich kennengelernt habe, als ich mit den anderen beiden Romanen an Schulen war und dort über sexualisierte Gewalt und toxische Beziehungen gesprochen habe. Die Mädchen waren so informiert und interessiert – und haben Dinge gesagt wie: „Wenn es bleibt, wie es ist, werden wir in dieser Gesellschaft keine Kinder bekommen.“ Sie sind vernetzt, sie wissen Bescheid, sie erheben ihre Stimmen, und ich wollte unbedingt eine solche junge Frau schreiben. Ich wünsche mir, dass Frauen erkennen, dass das Patriarchat sie in ein Klima der permanenten Konkurrenz zwingt und ihnen einredet, sie wären einander die schlimmsten Feindinnen. In Wahrheit gibt es so vieles, das uns verbindet und eint. Da ist eine Schwesterlichkeit, die in meinen Augen weit über die Seilschaften der Männer hinausginge, wenn wir ihre Kraft sehen und nutzen könnten. Um etwas zu bewegen, müssen wir zusammenhalten.

Und wenn du an Sarah denkst?

Sarah ist lieb und brav, sie hat es sich ein bisschen gemütlich gemacht im Patriarchat. Sie glaubt, dass man als Frau eh gut durchkommt, wenn man „halt ein bisschen mitspielt“. Im Lauf des Buchs versteht sie aber immer mehr, dass sie wütend sein darf – und allen Grund dazu hat.

Ich musste beim Lesen immer wieder Pause machen und habe von anderen Leserinnen gehört, denen es ähnlich ging. Tod, Trauer, Gewalt, die Selbstverständlichkeit, mit der Sarah in die Rolle der Ersatzmutter gedrängt wird… Ich hatte fast permanent eine Gänsehaut – und das bei 30 Grad im Schatten. Wie viel Kraft hat es dich gekostet, den Roman zu schreiben oder hat dich einfach die Wut getrieben?

Es fühlt sich jedes Mal an, als würde ich mir das Buch aus den Rippen schneiden, so schmerzhaft ist es. Alles, was es beim Lesen auslöst, fühle ich auch beim Schreiben.

 

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Im Internet begegnen mir immer häufiger Triggerwarnungen. Wenn ich ein Buch vorstelle, bin ich mir manchmal unsicher, weil eine Warnung zwar angebracht, aber oft auch ein Spoiler sein kann. Wie gehst du mit dieser Problematik um? Würdest du deinem Roman eine Triggerwarnung voranstellen?

Darüber wurde im Hintergrund lange diskutiert, der Verlag hat sich dagegen entschieden. Ich habe aber das Nachwort eingefügt mit den Hinweisen und Hotlines.

Vor einer Weile habe ich „FRAUEN LITERATUR“ von Nicole Seifert gelesen. Ich vermute, dass viele Männer deinen Roman als „Buch für Frauen“ einordnen?

Eine solche Einordnung wird, wenn sie geschieht, von der Gesellschaft vorgenommen, vom Buchmarkt. Dann kommt es drauf an, ob das Männer sind, die keine Bücher VON Frauen lesen, weil es ihnen nie beigebracht wurde – oder ob sie einen offenen Blick haben. Davon gibt es zum Glück auch viele, und sie reagieren durchaus positiv auf diesen Roman. Weil sie wissen und verstehen, wie schlecht das aktuelle System für uns alle ist – die Männer eingeschlossen. Es geht ja nicht darum, ihnen etwas wegzubeißen. Sondern aufzuzeigen, dass es auch für sie von Vorteil wäre, aus den toxischen Zwängen des Patriarchats auszubrechen.

Würdest du selbst sagen, dass DIE WUT, DIE BLEIBT ein feministischer Roman ist?

Ich weiß nicht, ob es eine solche Zuschreibung braucht. Wir haben das Wort „feministisch“ inzwischen mit so vielem aufgeladen. Es ist ein Roman über die Lebensrealität von Frauen und Mädchen, die in der Gesellschaft zu wenig Beachtung findet – genau wie in der männerdominierten Literatur.

Was war die schönste Reaktion auf den Roman?

Es gab unzählige. So viele Nachrichten, manchmal nachts um drei, von Frauen, die geschrieben haben: Ich stille gerade mein Baby, lese dein Buch und kann nicht aufhören zu weinen. Zahlreiche Meldungen von Männern, was der Roman bei ihnen ausgelöst und bewirkt hat. Auch zum Beispiel von einem Achtzehnjährigen, der ihn in zwei Tagen verschlungen und direkt an seinen besten Freund weitergegeben hat. Auch die Lesungen sind sehr emotional: Oft ist der Schmerz richtig greifbar. Alle Frauen im Raum spüren: So geht es uns. Weil wir Frauen sind. Und die Gespräche danach sind sehr offen, berührend und wichtig.

Und was kommt als nächstes?

Das ist die Frage. Was kommt nach der Wut?

Liebe Mareike, vielen Dank für das Interview! 

Mareike Fallwickl spricht auf jedem Kanal und jeder Bühne über weibliche und diverse Erzählstimmen und arbeitet mit daran, the patriarchy zu smashen. Ihr findet sie auf Instagram unter: @the_zuckergoscherl

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Foto: Gyöngyi Tasi

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