„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“, so die Botschaft aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper. Denn erst muss der Mensch leben, dann kann er nach höheren Idealen streben. Ausreichende Ernährung war zu dieser Zeit noch eine Frage der sozialen Zugehörigkeit. Heute, fast hundert Jahre nach der Erstaufführung des berühmten Stücks, leben wir im Überfluss. Theater ums Essen gibt´s dennoch zuhauf. Das Thema Ernährung ist zu einer Glaubensfrage geworden, was die Kinder essen zum Glaubensbekenntnis.
Im Ketchup wohnt der Satan
Wenn du wissen willst, wie die anderen Eltern in der Kita so drauf sind, sagt dir ein Buffet mehr als tausend Worte. Denn: Sind die Familien aufgefordert, das Essen auszurichten, wird nicht einfach ein leckeres Gericht beigesteuert, sondern gleich die ganze Ernährungsdoktrin aufgefahren! Es ist Freitagnachmittag. Die Kita hat zum jährlichen Frühlingsfest geladen. Die Gruppe der „Wurzelzwerge“ war für die Verpflegung zuständig und Hunger hab ich auch mitgebracht, also geht´s nach der Begrüßung gleich zum Buffet.
Dort stelle ich fest: Das Essensangebot liest sich wie eine Kampfansage von Attila Hildmann. Zucker ist der Endgegner, gesättigte Fette zeugen von schmieriger Unkenntnis, Fleisch ist das neue Rauchen und salzen gilt offenbar als anbiedernde Verzweiflungstat. Verlegen lächelnd überreiche ich einen Schokokuchen und komme mir damit so unpassend vor, wie ein Tänzer auf dem Friedhof. Nach Ketchup zu meiner veganen Wurst frage ich erst gar nicht. An dem glutenfreien Quinoabrot vom Buffet habe ich mindestens so lange zu kauen, wie an meinen Ernährungszweifeln und ich frage mich, ob man nach dem alten Credo „Gegessen wird, was auf den Tisch kommt!“ überhaupt noch leben kann?
Gesichtslose Bratwurst
Schon in der Schule lernen Kinder, was eine gesunde Ernährung ausmacht. Im Grunde hat sich daran auch in den letzten Jahrzehnten nicht viel geändert und trotzdem soll das Rad immer wieder neu erfunden werden. Was wir essen, sagt nämlich eher etwas über unseren Status und unser Weltbild aus, als über unseren Geschmack. Der stete Überfluss hatte die Begrenzung zur Folge und wenn alles immerzu verfügbar ist, wird die Auswahl der Nahrung identitätsstiftend. Politisch ist sie sowieso. Was wir also auf den Tisch bringen, ist nicht einfach nur nahrhaft, wir vermitteln unseren Kindern einen Lebensstil, unsere Moral- und Ethikvorstellungen.
So kommt es, dass schon Dreijährige vor dem Bratwurststand konstatieren: „Wir essen keine Tiere!“ und damit eigentlich meinen: „Wie kann man nur so herzlos sein?“! Tatsächlich stellt sich mit Kindern, aber ohne Fleischverzicht die Frage, wie man erklärt, dass Wiener und Co. irgendwann mal Puls und lange Wimpern hatten. Auf einmal bekommt Gesichtswurst eine ganz neue Bedeutung, die aber wirklich nur für den Moment eine unangenehme Verknüpfung herstellt. Die Einteilung der Tierwelt in unserem Alltag folgt der Ordnung Supermarkt oder süß. Katzen und Hunde sind in unserer Kultur immer die zweite Kategorie.
Diese lebensrettende Eindeutigkeit gilt leider nicht für jedes Tier. Das Kalb ist niedlich und ungestüm, hängt man das Wort Leberwurst dran, ist es lecker und gehört in den Supermarkt. Hilfreich ist natürlich die abstrakte Gestalt, in die Tiere verwandelt werden, sobald sie das Attribut lecker bekommen. Kein Mensch assoziiert wirklich ein lustiges Schweinchen mit einer abstrakten Bratwurstform. Lediglich die Kennzeichnung „Im eigenen Darm“ macht manch Erwachsenem mit klassischer Mischkost und bildhafter Fantasie Probleme.
Fliegendes Essen
Hat man sich als Familie für eine Form der Ernährung entschieden, muss man nur noch den Nachwuchs dazu bekommen, das auch zu essen, was man für richtig hält. Das ist oft schwierig und nicht selten wächst sich das Thema Nahrungsaufnahme zum Machtkampf aus. Wenn der Grünkernbratling über den Tisch fliegt, gibt es plötzlich ernste Zweifel, ob mit dem Argument „Das ist aber gesund.“ überhaupt noch irgendwas zu machen ist. Dem gesellschaftlichen Druck „Du bist, was dein Kind isst.“ kann man nur noch mit der Flucht nach vorn begegnen und so wird der kleine Verweigerer zum geborenen Mäkler erklärt. Die erst so befreiende Diagnose lässt nun Raum für die Angst vor dem Suppenkasper-Schicksal und das vermeintlich drohende Untergewicht wird zum Damoklesschwert über dem Küchentisch. Wenn dann Essen schon allein deswegen verweigert wird, weil es sich ganz kurz in der unmittelbaren Nähe von Vitaminen und Ballaststoffen befunden hat, geht es gar nicht mehr um die Frage nach der richtigen Ernährung, sondern vielmehr darum, wer jetzt hier der Kasper ist.
Eine Frage der Geschmacksnerven
Das Problem, dass Kinder ein absolut unvernünftiges Verhältnis zum Essen haben, ist hinlänglich bekannt. Die Werbung und der Supermarkt sind ebenso wenig hilfreich wie die Kinderkarte in Restaurants. Sobald ein Kind die erste Berührung mit Pommes oder Eis hatte, ist es dem Ruf von Zucker und Fett verfallen, wie Gollum dem Ring. Und dafür gibt es einen Grund: Überleben! Aus evolutionsbiologischer Sicht ist kalorienreiche Nahrung selten und sicher und muss daher unbedingt in rauen Mengen vertilgt werden. Das ist schlau, denn so ist für schlechte Zeiten vorgesorgt. Die Geschmackspräferenz für süß ist zudem angeboren und wird mit der Muttermilch auch gleich bedient.
Ab dem Beikost-Alter ist das Kind zwar neuen Lebensmitteln gegenüber eine Weile sehr offen und probiert auch die Oliven oder den Rosenkohl, aber mit dem 18. Lebensmonat verengt sich diese Aufgeschlossenheit wieder. Die Skepsis wächst, denn nun kommt nicht mehr jeder Bissen von den vertrauenswürdigen Eltern, die Kinder entscheiden zunehmend selbst und trauen dabei einem altbewährten System. Was bitter schmeckt, kann nämlich giftig sein, Saures verdorben oder unreif. Auf dem Mäkelhöhepunkt sind Kinder zwischen drei und vier, dann wird es im Alter von 8 bis 12 wieder besser. Das liegt auch daran, dass sie beginnen, weniger gut zu schmecken. Kleine Kinder haben doppelt so viele Geschmackssinneszellen wie große Menschen und verlieren diese im Laufe ihres Lebens. Auf der viel kleineren Zunge liegt also wirklich doppelt so viel Geschmackssensibilität wie bei Erwachsenen.
Die kleinen Superschmecker lecken also nur die Leberwurst vom Brot und sollen uns damit den Beweis erbracht haben, kleine Gourmets zu sein? Nudeln ohne Sauce als neuer Minimalismus-Trend? Bevor wir die Ernährungspyramide für den heimischen Speiseplan ganz aufgeben und versuchen, die Vierjährige im Restaurant den Wein aussuchen zu lassen, müssen wir uns doch wieder an unsere Verantwortung als erziehungsberechtige Esser erinnern und einen Weg finden, dem Kind eine ausgewogene Ernährungsweise beizubringen. Denn das angeborene Mäkeln und die begleitende Unvernunft sind nur ein Teil der Wahrheit.
Essen vom Tisch
Eltern als ultimativer Orientierungspunkt beim Thema Essen haben nur eine einzige Chance der penetranten Antihaltung entgegenzuwirken: Schweigen. Hat das Kind erstmal ein Lebensmittel abgelehnt, das vorher lächelnd mit der Ankündigung: „Das ist gesund!“ eingeführt wurde, ist diese Kategorie ein für alle Mal verbrannt. Alles Essbare wird am besten gleichwertig behandelt, Ablehnung kommentarlos hingenommen, provokante Nörgelei ignoriert. Fliegt der Grünkernbratling dann wieder durch die Luft – einfach fangen und selbst essen. Stoisches Aussitzen von kindlichen Autonomiebestrebungen und Komplettverweigerung gehört dazu.
Auch die Angst vor einseitiger Ernährung sollte nicht dazu führen, dass pro Mahlzeit acht Speisen angeboten werden, um das Kleinkind adäquat satt zu bekommen. Das alte: „Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!“ ist heute vielmehr ein Probiergebot als eine „Friss oder stirb“-Haltung. Kinder sollen die Lust am Essen behalten, auf ihr Sättigungsgefühl hören und ihren Geschmack entwickeln dürfen. Sie sollen nicht gezwungen werden, den Teller leer zu essen. Manche Eltern entledigen sich gar dem Zwang, das Essen überhaupt auf einem Teller zu servieren.
Wer sich an die berühmte Octomum aus den USA erinnert, kennt vielleicht auch die Reportage über die Frau, die mit einer einzigen Schwangerschaft 8 gesunde Kinder zur Welt brachte. Die Geschichte der alleinstehenden Mutter von insgesamt 14 Kindern erregte weltweit Aufsehen, wegen der unglaublich großen Herausforderung all diesen kleinen Menschen gerecht zu werden. Die Dokumentation ihres Alltags zeigt auch das gemeinsame Mittagessen und man sieht, wie sie 14 Essensportionen direkt auf dem Tisch herrichtet. Besteck war ebenfalls nicht nötig. Die Stimme aus dem Off konnte sich den Suppenwitz nicht verkneifen und neben den mehr oder weniger artig essenden Kinder ist mir auch in Erinnerung geblieben, dass alle ihren Brokkoli aßen. Gruppendynamik ist nämlich ebenfalls ein guter Helfer, wenn es darum geht, auch mal Vitamine beizumischen. Das ist auch der Grund dafür, warum im Kindergarten sehr viel weniger gemeutert wird, wenn das Essen Farbe hat.
Rituale, Regelmäßigkeit und Regeln für Ausnahmen sind ein hilfreicher Rahmen für die heimische Tischkultur. Irgendwann und mit dem Gebot immer mal wieder zu probieren, werden sich der Geschmack und die Haltung gegenüber dem Essen so verändern, dass man vor ganz neuen Problemen steht. Nun soll man den teuren Ziegenkäse teilen und kauft Oliven im Kilo-Pack. Bis dahin kann man sich ruhig etwas entspannen und mal ein Stück Schokokuchen essen. Zum Streitthema Ketchup lässt sich abschließend sagen: Lassen Sie das Kind nicht die ganze Flasche auf einmal trinken!
Text: Andrea Glaß
Hier könnt ihr die vorherigen Kolumnen Sagt euren Kindern …, dass Mama auch ein Leben hat – Wer sich selbst aufgibt, hat als Mutter versagt und Sagt euren Kindern …. die ungeschönte Wahrheit – Warum die Lüge herzlos ist! nachlesen.
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