Kolumne: Hilfe zur Selbsthilfe

kolumne andrea glaß

Das Leben von Erwachsenen ist voll von Routinen. Die meisten Tage ähneln sich daher stark. Und das ist gut so. Denn Struktur ist wichtig für unser Wohlbefinden. Sie gibt uns ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Routinierte Abläufe helfen dabei, mentale Energie zu sparen. So bleibt genug Aufmerksamkeit für wichtige oder komplexe Aufgaben übrig. Zum Beispiel könnten die meisten Erwachsenen sich die Schuhe im Halbschlaf zubinden, sie müssen nicht mehr überlegen, wie man Zähne putzt oder brummen reflexartig „Hmmm“, wenn der nervige Kollege nach einem 8-minütigen Redeschwall endlich eine kurze Sprechpause einlegt. Das ist eben Gewohnheit, das läuft automatisch. Kinder führen einem jedoch sehr deutlich vor Augen, wieviel Kraft und Ausdauer es kostet, aus einer alltäglichen Notwendigkeit eine simple Angewohnheit zu machen. Hemd zuknöpfen, Milch eingießen oder Brötchen schmieren – normal für uns, extrem herausfordernd für die Kleinen. 

Multifunktionswäsche

Je älter Kinder werden, desto mehr Autonomie fordern sie ein. Um mein Kind auf dem Weg in die Selbständigkeit zu unterstützen, halte ich es mit der italienischen Ärztin und Reformpädagogin Maria Montessori, die ihr methodisches Motto mit dem Satz „Hilf mir, es selbst zu tun.“ auf den Punkt brachte. Ich bemühe mich also in diesem Sinne, meinem Sohn zu zeigen, wie er eine Aufgabe eigenständig bewältigen kann. Was die gute Frau Montessori meines Erachtens hätte ergänzen können, ist der Nachsatz für Eltern: „Und ertrage geduldig, wie ich komplett beratungsresistent ca. 1000 Mal den gleichen Fehler mache und deswegen jedes einzelne Mal ein Dramenballett aufführe.“ Plötzlich erkennt man die Schönheit der geübten Handlung.

Aber nicht nur Geduld ist gefragt. Das kindliche Lernen hält für Eltern eine Menge Überraschungen bereit. Ich bin immer wieder angehalten, ganz neu über Banalitäten nachzudenken. Über den Unterschied zwischen einer Mütze und einem Schlüpfer z.B. und warum ich eigentlich so dagegen bin, mein Kind mit dem Dino-Schlüppi auf dem Kopf in die Kita zu bringen. Argumentativ stehe ich doof da, denn beides passt hervorragend über die Ohren. Mit einem String Tanga wäre das nicht passiert, aber die gibt es leider nicht in so kleinen Größen. 

Kinderleicht?

Wer je einen Dreijährigen dabei beobachtet hat, wie er versucht, sich die Jacke selbst anzuziehen, muss außerdem einsehen, dass rein gar nichts selbstverständlich ist. Nachdem ich meinem Sohn erklärt hatte, wie man erkennt, wo oben und unten sowie innen und außen ist, fand ich es sehr smart von ihm, dass er sich als ersten Schritt die Kapuze auf den Kopf setzt, um sich Orientierung zu verschaffen. Bravo. Schwieriger war es jedoch für ihn zu lernen, dass man das große Wimmelbuch zuerst aus der Hand legen muss, um in den Ärmel zu kommen. Ich dachte, diese Einsicht ist zwingend, aber so ist es nicht. Es gibt Kinder, die versuchen trotzdem den halben Quadratmeter durch die kleine Öffnung zu kriegen. IMMER WIEDER. Wir Eltern müssen das aushalten. Als diese Hürde genommen war, hat der Junge es tatsächlich geschafft, den richtigen Arm im ersten Ärmel zu versenken. So weit, so gut. Nun begann er jedoch, sich immer schneller im Kreis zu drehen, um den zweiten Ärmel einzuholen, der sich mit jedem Dreh wie magisch von ihm wegbewegte. Ich musste zwangsläufig an den Nachbarshund denken, der seinen eigenen Schwanz jagt. Nun. Es ist ein Prozess. 

Scheitern macht gescheiter

Fehler gehören dazu. Manche sind sogar richtig erhellend: Mein Sohn konnte lange nicht „Babelsberg“ sagen und produzierte stattdessen immer „BaGelsberg“, was uns fast dazu gebracht hätte, ein ganzes Business rund um gelochte Brötchen im Osten der Stadt aufzuziehen. Genial so ein Sprachfehler, aber als Geschäftsmodell dann doch zu wenig. Wir müssen als Eltern privat schon genug Risiken eingehen. Zum Beispiel ist es jedes Mal sehr aufregend, wenn der Junge beim Kochen helfen will. Er lässt sich nicht lange mit ungefährlichen Aufgaben beschäftigen und will unbedingt Gemüse schneiden. Ich bin mir sehr unsicher, wie gut ich jemandem ein Messer anvertrauen kann, der mir gerade noch seinen Spielzeugwischmopp in die Rippen gerammt hat und dann lachend weglief! Wir üben also mit einem Kindermesser an weichen Pilzen und Tomaten. Das macht er toll. Ich unterstütze ihn in dem Vorhaben, Dinge allein zu tun, sich zu beteiligen und auszuprobieren. Auch, wenn das bedeutet, dass es länger dauert, ich trösten oder im Anschluss sehr lange aufräumen muss. Denn Schwierigkeiten und das Scheitern gehören zum Leben dazu. Schade, dass wir viel zu oft glauben, das würde nur für Kinder gelten. 

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