Unsere Gesellschaft hat ein merkwürdiges Verhältnis zum Schlaf. Bei der heutigen Lebenserwartung von rund 80 Jahren lässt sich schätzen, dass wir grob ein Drittel unseres Lebens schlafen. Und das nicht ohne Grund: Der Mensch braucht Schlaf, sonst funktioniert er nicht. Wir sollen also immer ausgeschlafen sein. Wer müde ist, bekommt nicht etwa Verständnis oder ein Schläfchen verordnet, sondern macht sich sogar eines zweifelhaften Lebenswandels verdächtig. Aber die Wahrheit ist: Das Leben hält eine Menge schlafraubender Widrigkeiten bereit.
Als Baby oder Kind gibt es im Alltag noch genug Raum für das individuelle Schlafbedürfnis. Eltern und Medizinern ist klar, dass zu wenig Schlaf ernsthafte Konsequenzen für die Entwicklung hat. Ab dem Jugendalter ist es jedoch vorbei mit der Rücksicht. Tag- und Nachtphasen sollen von nun an und für immer identisch sein mit den Öffnungszeiten eines gemeinen Großstadtsupermarktes. Dabei weiß die Wissenschaft seit langem, dass es ungesund ist, Teenager schon vor acht Uhr in die Klassenzimmer zu nötigen. Das Müdigkeitshormon Melatonin kickt mit Eintritt in die Pubertät erst zwei Stunden später rein als bei einem gewöhnlichen Erwachsenen. Die innere Uhr von Jugendlichen wird damit quasi auf eine andere Zeitzone eingestellt. Trotzdem klingelt der Wecker wochentags gnadenlos zur ersten Stunde. Der pubertierende Sonnengruß ist zu Recht ein müder Mittelfinger.
Ähnlich ignorant begegnet die Arbeitswelt Menschen mit Babys und Kleinkindern. Eltern haben laut Forschung bis zu sechs Jahre nach der Geburt eines Kindes regelmäßig ein Schlafdefizit. Leider ist für Müdigkeit im Kapitalismus kein Platz. Koffein und Guarana sollen das regeln. Der Arbeitgeber stellt Dir lieber eine Palette Energydrinks neben Deinen Arbeitsplatz als ein Bett für Powernaps. Im Job gilt: Wer abkackt, wird abgemahnt! Diese Haltung ist mutig, wenn man bedenkt, dass unsere geistigen Fähigkeiten nach 24 Stunden ohne Schlaf ähnlich eingeschränkt sind, als hätten wir 1 Promille Alkohol im Blut. Wer beruflich hauptsächlich mit Excel und PowerPoint hantiert, muss dem Chef nach einer schlaflosen Nacht eventuell lächerliche Ergebnisse erklären. Bei Berufsständen mit Verantwortung für Leib und Leben hingegen ist Schlafmangel weit weniger witzig. Wir können also nur hoffen, dass weder Pilot noch Schulbusfahrerin nächtelang über zahnende Babys oder kotzende Kleinkinder wachen müssen.
Nessun dorma
Während der Nachtschlaf in unserer Leistungsgesellschaft noch als notwendiges Übel geduldet wird und sich daraus sogar Gesetze ableiten, die Ruhezeiten zwischen Arbeitseinsätzen erzwingen, gilt der Mittagsschlaf als dekadenter Luxus. Für gepflegtes Ablegen nach dem Mittagessen hat man sich fast so sehr zu schämen wie für Inlandsflüge oder Plastikstrohhalme. Das zeigt sich deutlich, wenn man doch mal jemanden mitten am Tag wachklingelt. Die Standardreaktion auf die ungläubige Frage: „Oh, hab ich Dich geweckt?“ ist immer ein schlaftrunkenes Dementi. Niemals gibt ein Erwachsener zu, leidenschaftlich gern Siesta zu halten und seinen Tag zielgerichtet so zu planen, dass das „Päuschen mit Augen zu“ kompromisslos stattfinden kann. Es gibt im Grunde nur zwei Lebensphasen, in denen adulter Tagesschlaf mehr oder weniger gebilligt wird: als Rentner oder als Elternteil eines Kindes, das noch Mittagsschlaf hält.
Bei der Einschlafbegleitung selbst wegzunicken, zählt als Kollateralschaden und ist somit entschuldigt. So war mein Sohn (4 Jahre alt) bis vor kurzem mein Schlaf-Alibi für ungünstig liegende Verabredungen. „Ich kann leider erst ab 16 Uhr, mein Sohn braucht sein Schläfchen.“ Dank ihm konnte ich, wann immer es ging, mittags ratzen, ruhen, schlummern, ohne in den Verdacht zu geraten, ein unproduktives faules Stück zu sein. Das ist jetzt vorbei! Mein Sohn will keinen Mittagsschlaf mehr machen, egal wie sehr ich den brauche.
Leben im Jetleg
Da ich vom Chronotyp eine astreine Eule bin, werde ich abends noch lange nicht müde, wenn Aldi und Co. schließen. Der Sohn ist jedoch, wie die meisten kleinen Kinder, bei Sonnenaufgang schon wieder putzmunter. Am Ende meiner Nacht ist dann noch sehr viel müde übrig. Meine Schlafschuld kann ich am Tage nun nicht mehr kompensieren. Und so wird es wohl bleiben, bis der Junge in die Pubertät kommt und selbst bis mittags pennt. Das Schlafbedürfnis von Eltern und Kindern ist über lange Zeit völlig asynchron. Gerade wenn das Schlafverhalten beginnt, sich anzugleichen, zieht der Nachwuchs aus. Wenn es bei meinem kleinen Mittagsschlaf-Verweigerer so weit ist, komme ich in ein Alter, in dem ich weniger Schlaf benötige. Die neu gewonnene Tagesfreizeit werde ich wohl nutzen, um mich regelmäßig telefonisch nach meinem Sohn zu erkundigen. Am besten früh morgens oder um die Mittagszeit. Da sollte er gut erreichbar sein.
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