Kolumne: Lügner haben lange Beine

Kolumne Lügner Kinder schwindeln flunkern

Mein Sohn wird bald vier. Mit seinem anstehenden Geburtstag verlässt er offiziell das Kleinkindalter und dann wohl sehr bald auch seine Mutter. Ich weiß, das ist übertrieben. Er ist ja noch ein kleines Kind. Da meine große Tochter bald 14 wird, weiß ich, dass die Zeit so irre schnell vorbeigeht, dass gefühlt schon morgen die Einschulung bevorsteht, die Woche drauf die Pubertät losgeht und bis Ende des Monats habe ich ihn an irgendeine fremde Stadt im Ausland verloren. – Oh Augenblick, verweile doch!

Beruhigend ist, dass es sich bei meiner Prophezeiung lediglich um eine gefühlte Wahrheit handelt. Sie ist weder wahr, noch ist sie eine Lüge. Vielmehr sind gefühlte Wahrheiten sowas wie die Überspitzung einer möglichen Realität. Um sich solche Zukunftsszenarien überhaupt zurecht fantasieren zu können, braucht es vor allem Vorstellungsvermögen. Das entwickeln Kinder bereits im Alter von 2 oder 3 Jahren. Dank dieser frühkindlichen Fantasie gelingt es ihnen z.B. ohne weiteres, ihre Eltern mit einer simplen Packung Taschentücher am Ohr in ein sehr zähes und ziemlich verwirrendes Telefonat zu verwickeln. 

Schon kurz darauf, also im Alter meines Sohnes, macht das Gehirn einen weiteren wichtigen Entwicklungsschritt durch. Dank neuer Zellverbindungen kapieren Kinder nun das Konzept „Geheimnis“. Bis vor kurzem nahm mein (noch) Dreijähriger an, dass es für alle Menschen nur einen einzigen Wissensstand gibt – und zwar seinen eigenen. Alles, was er sah oder wusste, so glaubte er, sahen oder wussten auch alle anderen. Deswegen flippen Kleinkinder aus, wenn man ihnen zum Frühstück die falsche Tasse hinstellt. Sie wissen nicht, dass wir von ihrem speziellen Maulwurf-Tassen-Wunsch an diesem Morgen keine Ahnung haben können. Allmählich dämmert ihnen jedoch, dass es Dinge gibt, die nur sie selbst wissen. In der Computersprache würde man nach Abschluss dieser Entwicklungsphase sagen: Das Systemupgrade ist vollständig geladen. Das Kind ist jetzt bereit zum Lügen. Und das tun die kleinen Biester auch sogleich.

Netter Versuch

Zum Glück ist noch kein Meister vom Himmel gefallen und die heranwachsenden Schlawiner sind die schlechtesten Schwindler, die man sich nur vorstellen kann. So fragte mich mein Sohn neulich, ob er ein Eis essen dürfe. Ich sagte nein mit der Begründung, dass er schon ein Eis und Kekse gegessen hätte und zu viel Süßes nicht gesund sei. Er bestritt vehement, an diesem Nachmittag auch nur in der Nähe von Zuckerzeug gewesen zu sein. Um dies als Falschaussage zu entlarven, wäre es nicht mal nötig gewesen, kurz vorher beobachtet zu haben, wie er sich mit den Nachbarskindern genüsslich Eis und Nascherei teilt. Ein simpler Blick auf Gesicht und T-Shirt hätte gereicht, um die wilde Räuberpistole zu durchschauen. Während er bockig auf dem Boden lag und jeglichen Konsum von süßen Leckereien dementierte, sprachen die großflächigen Schoko-Kronzeugen an Mund und Händen jedoch die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Aber, wer bin ich, mich hier als Richterin aufzuspielen?

Lügenprofis

Erwachsene lügen doch selbst ständig. Das sind oft sogenannte soziale Lügen, weil es schlicht konfliktärmer ist, wenn man einfach sagt, dass der mitgebrachte Kuchen vom Chef superlecker war. Auch wenn man einen halben Liter Milch gebraucht hat, um das Stück runter zu würgen. Diese Form des höflichen Lügens hat wichtige Sozialfunktionen und geht als geduldet durch. Trotzdem sollte man sich nicht dabei erwischen lassen. Dann gibt es noch das betrügerische Lügen, um sich bewusst einen Vorteil zu verschaffen. Das ist sozial weder akzeptiert noch gewünscht. Der kläglich gescheiterte Eis-Betrugsversuch meines klebrigen Kindes fällt in diese Kategorie. 

Aber wie soll ich meinem Sohn einen Vortrag über Ehrlichkeit halten, wenn ich doch gerade neulich erst, ohne mit der Wimper zu zucken, behauptet hatte, in dem letzten Schokopudding wäre leider, leider Alkohol drin. „Den dürfen Kinder nicht essen. Tut mir leid, Schatz! Willst Du einen Apfel?“ – Eltern können bigotte Heuchler sein, palavern über zu viel Zucker und essen einen Bottich Eis, sobald die Kinder schlafen. Sie warnen vor Drogen und Alkohol und liegen sonntags verkatert im Bett. Ich erkläre ihm natürlich trotzdem, warum wir uns nicht anlügen und dass es manchmal schwer ist, die Wahrheit zu sagen. „Ein kleines bisschen schummeln ist schon mal erlaubt, wenn es niemandem schadet. Aber Vertrauen geht leicht kaputt und dann weiß man gar nicht mehr, wann jemand die Wahrheit sagt“, führe ich aus.

Falls meine Ansprache trotzdem nicht gegen die Flunkereien helfen sollte, kann ich mir seine Ehrlichkeit immer noch mit dem allwissenden Weihnachtsmann erschwindeln. Bis er mir auf die Schliche kommt, dauert es hoffentlich noch eine Weile.

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