Das erste Wort, das mein Sohn sprach, war „Nein“ und zwar aus einem einfachen Grund: Es war das Wort, das er am häufigsten zu Hause hörte. Das ist nun schon eine Weile her und abgesehen von der adäquaten sprachlichen Verarbeitung dieses wichtigen Partikels zeigt das Kind sich nicht weiter beeindruckt davon – weder von seiner vehementen Anwendung noch von der dramatischen Grimasse, mit der seine Eltern versuchen, der Ernsthaftigkeit mehr Nachdruck zu verleihen. Im Gegenteil. Hört der Junge ein energisches „Nein!“, legt er einfach einen Zahn zu, um vor dem elterlichen Eingreifen noch möglichst viel Schaden anzurichten. Man staunt nicht schlecht, wie schnell das Klopapier gänzlich abgerollt ist, eine offene Familienpackung Basmatireis in Küche und Flur verteilt werden kann oder wie lange es dauert, bis man Blumenerde vorsichtig von der Couch entfernt und diese wieder gereinigt hat. Das ist die Lebensphase, in der Eltern das Undenkbare lernen: Stille ist oft schlimmer als Geschrei!
Die ruhigen fünf Minuten, die man gedankenverloren am Handy daddelt, sind nicht selten teuer bezahlt. Man wähnt das Kind beschäftigt in seinem Zimmer, dabei ist der laufende Meter schon unterwegs, um das alphabetisch sortierte Bücherregal auszuräumen. Schon wieder. Ich schaffe es noch, dem Treiben bei E wie Elternratgeber Einhalt zu gebieten und stoße dabei auf folgende Empfehlung zum Thema Verbote: „Weniger ist mehr. Ein Nein ist umso wirksamer, wenn es seltener ausgesprochen wird“. Und dazu kann ich nur sagen: Hahahahahahaha! Vielleicht, wenn man mit Stromstößen arbeitet, aber das ist keine Option, glaub ich (Spaß).
Nein! Doch! Ohhhh!
Als ich der Tagesmutter davon erzähle, erklärt sie, dass man einem Kind eine Sache im Schnitt 28 Mal sagen muss, bevor es sie begreift. Dann bin ich etwas beruhigt, aber nur solange bis mir plötzlich auffällt, dass ich überhaupt nicht nach dem zeitlichen Rahmen gefragt habe – 28 Mal am Tag? Die Stunde? Und wie erkläre ich dem Sohn, dass wir allein in den letzten 15 Minuten die „28“ lange voll hatten? Noch so ein zweifelhafter Rat kommt aus dem Internet: Vorbild sein! Natürlich bin ich Vorbild. Ich öffne Reispackungen sachgemäß, rolle Toilettenpapier sparsam ab und topfe nur ganz selten Blumen auf der Couch um. Außerdem gehe ich immer ganz kindgerecht in die Knie und erkläre auf Augenhöhe geduldig, warum ich das Verbot ausspreche. Mein Sohn hört aufmerksam zu und wiederholt mit schüttelndem Kopf ein verständiges und zuckersüßes „Nein“, nur um dann zwei Minuten später wieder an der Klopapierrolle zu ziehen. Irgendwie müsste ich jetzt mal sauer werden, aber es amüsiert mich viel mehr, welchen Spaß der Junge an der Interaktion hat. Es ist mittlerweile eine richtige Choreografie geworden: Er steuert das Verbotene an, ich reagiere, er freut sich wie ein Schneekönig.
Ignoriere ich sein Verhalten, verliert er das Interesse. Er ist sich also seiner selbst bewusst und hat gelernt, dass er etwas tun kann, um eine Reaktion zu bekommen. Und diese Reaktion, die will er und zwar immer wieder. Deswegen essen wir jetzt nur noch Kartoffeln, das Toilettenpapier ist versteckt und die Zimmerpflanzen stehen alle unzugänglich auf Schränken. Wenn man’s nicht wegräumen kann, muss man einfach locker lassen. Es lohnt nicht, sich jedes Mal an der Durchsetzung des „Nein“ abzuarbeiten. Ich bin allein vier Wochen über einen Haufen Bücher gestiegen, weil ich nicht jeden Tag neu einsortieren wollte. Als die kleine Nervensäge sich jedoch das erste Mal in Gefahr brachte, war das erschrockene „Nein“ seiner Eltern plötzlich sehr wirksam. Er hat danach nie wieder versucht, den Stift in die (gesicherte) Steckdose zu stecken.
Dafür hat er entdeckt, dass er sein erstes Wort auch selbst sehr effektiv einsetzen kann. Man muss also erstmal an seinem „NEIIIIIN“ vorbei, wenn man ihn eincremen oder ins Bett bringen will. Dann muss ich wieder auf Augenhöhe und geduldig erklären, warum es wichtig ist, dass seine Haut vor Sonne geschützt ist und er genug schläft. Er quittiert meine einfühlsamen Worte einfach mit seinem langgezogenen „Neiiiiiiiiin“ und so langsam frage ich mich, wer hier eigentlich wen erzieht.
Text: Andrea Glaß
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