Meine Mutter sagt immer: „Wer mit dem Arsch an der Wand steht, zeigt seinen wahren Charakter.“ Und man kann sagen, wir stehen in dieser Pandemie alle seit Monaten mit dem Arsch an der Wand. Hinter uns liegen wirklich harte Zeiten. Selbst der Kölner Karneval ist ausgefallen. DER KARNEVAL – Himmel Herrgott! Das Coronavirus hat nicht nur die komplette Kulturszene lahm gelegt und unseren Alltag stark verändert, es funktioniert auch wie eine natürliche Auslese im Freundeskreis. Die Pandemie hat die Peergroup geschüttelt und rausgekommen sind: Querdenker, Nasenpimmel-Exhibitionisten und Impfgegner.
Man blieb nicht selten verwundert zurück. Der Stammtisch ist jetzt vielleicht kleiner, aber wenigstens sitzen nach dieser viralen Naturkatastrophe Leute dran, die geradeaus denken, ihre Maske korrekt benutzen und sich verantwortungsvoll immunisieren lassen, wenn sie können, denn Impfgegner zu sein, kann man sich auch nur leisten, wenn alle anderen sich impfen lassen. Das ist wie das Aufstehen während eines bestuhlten Konzerts, um besser sehen zu können. Der Vorteil gilt nur solange alle anderen brav sitzen bleiben, Marion! Und nur weil Du ein Schluck Wasser aus dem Ganges überlebt hast, als Du 2016 nach Deiner Scheidung die Hatha Yoga-Ausbildung in dem indischen Ashram gemacht hast, bist Du nicht unverwundbar.
Hier und da blitzt er hervor, der Impfneid.
Wir brauchen Herdenimmunisierung! Ich will meine Gewohnheiten zurück, will endlich wieder Verabredungen absagen und doch lieber zuhause bleiben, Beitrag im Fitnesscenter zahlen, aber nie hingehen, den Museumsbesuch aufschieben, bis ich die Ausstellung dann verpasse – Aber freiwillig! – normal eben.
Vom harten Lockdown, Brückenlockdown und Lockdown Light in die sozial sedierte Ecke getrieben, ist das Zünglein an der Waage natürlich die rettende Impfung. Bisher waren sich alle einig, dass Menschen mit besonderem Schutzbedürfnis zuerst geimpft werden sollten. Die ganz Alten und Pflegebedürftigen, dann die nicht ganz so Alten und Menschen mit medizinischer Vorbelastung oder viel Kontakt. Nun wurde die Impf-Priorisierung aufgehoben, aber schon jetzt spielt sie zuweilen keine Rolle mehr. Plötzlich steht nur noch ein Teil mit dem Arsch an der Wand. Die armen Gesunden. Die ohne Risikofaktor, die im Homeoffice ihrem Job nachgehen können und auch sonst mit niemandem in beengten Verhältnissen leben müssen, die besonderen Schutz brauchen. Hier und da blitzt er hervor, der Impfneid.
Als alle noch im gleichen Lockdown-Boot saßen, war Solidarität einfacher. Niemand klatscht heute mehr vom Balkon, der Impf-Looser wirft jetzt Blumenerde auf diese himmelschreiende Ungerechtigkeit. Da hilft auch das Argument nichts, dass mit jeder Impfung auch das eigene Ansteckungsrisiko sinkt. Seit dem 07. Mai sind Lockerungen für Corona-Geimpfte oder Genesene beschlossene Sache. Für sie gelten automatisch die Erleichterungen, die bisher Menschen mit negativem Test vorbehalten waren. Als geimpft gilt, wer vor zwei Wochen die letzte Dosis des jeweiligen Impfstoffs erhalten hat. Mit Respekt und Rücksichtnahme sollen Geimpfte ihren neuen Status leben, während der Rest Gottlieb Wendehals umdichtet und leise vor sich hin singt: „Alles hat ein Ende nur mein Lockdown nicht.“
Und eigentlich hat man´s sich ja auch ganz gut eingerichtet.
Dabei spielt die Bundesregierung ja nicht „Reise nach Jerusalem mit den Vakzinen“, es gibt für jeden einen Impfstuhl. Das Hauen und Stechen um den guten Stoff (Biontech) ist mittlerweile aber voll in Gange. Man ist zwar neidisch auf die Freiheiten der Geimpften, aber den Luxus des Mäkelns und Ablehnens lässt man sich als Grundgesetz-Deutscher ja wohl nicht nehmen. Und eigentlich hat man´s sich ja auch ganz gut eingerichtet. Wir können doch zufrieden sein in unseren ausgemisteten Wohnungen mit den erledigten Steuererklärungen und den sortierten Fotos. Man muss auch Gönnen können. Ich selbst sage auch meinen Kindern, dass ihr Leben ja nicht schlechter wird, nur weil die Nachbarskinder jetzt einen 8m langen beheizten Pool haben. Dann ruft meine beste Freundin an und teilt mit, dass sie einen Impftermin hat. Nächste Woche. Mit dem guten Stoff! Vor meinem geistigen Auge sehe ich sie im Konfettiregen mit Gin Tonics in tobenden Mengen. Menschen, die sich ausgelassen umarmen, lachen, tanzen. „Glückwunsch“, sage ich und stelle fest: Ich bin wohl auch nicht immun gegen Impfneid. Aber schon Wilhelm Busch wusste: „Der Neid ist die aufrichtigste Form der Anerkennung.“
Text: Andrea Glaß
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