Warum es völlig okay ist, wenn dein Baby nachts wach wird: Interview mit Babyschlafcoachin Helena Düll

Schlaflosigkeit: Fast alle Eltern kennen sie – vor allem aus den ersten Wochen und Monaten ihrer Elternschaft. Doch während man sich irgendwann darauf einstellt, dass das Leben jetzt wohl so sein muss und die damit einhergehende Gereiztheit und Erschöpfung wohl auch, werden andere Stimmen oftmals sehr laut. Die von den Eltern, deren Kinder überhaupt kein Schlafthema haben, die von Tag eins ihres Erdendaseins durchschlafen oder die von Menschen, die einem – selbstverständlich völlig ungefragt – um die Ohren schleudern, dass das Kind jetzt aber langsam wirklich mal durchschlafen sollte. Wenn das eigene Kind aber alle zwei Stunden nach Milch verlangt oder häufig weint, bekommen Eltern schnell das Gefühl, etwas falsch zu machen – vor allem dann, wenn es sich um ihr erstes Kind handelt.

Dabei sind Babys vor allem eins nicht: kleine Erwachsene, die einfach so schlafen können. Wie vieles andere auch, müssen sie erst einmal lernen, wie das mit dem Schlaf geht. Diese Entwicklung hat ganz viel mit Reife, aber auch mit Sicherheit und Geborgenheit zu tun. Wenn ein Baby nachts wach wird, dann ist das also kein Zeichen von „Schwäche” oder „Fehlern“ in der Erziehung.

Doch wie kann ein gesundes Fundament für erholsame Nächte aussehen? Denn eins steht auch fest: Kein Elternteil auf dieser Welt muss dauerhaft über seine Grenzen hinaus gehen – auch nicht beim Thema Schlaf, sagt Helena Düll. Sie arbeitet als bindungsorientierte Schlafcoachin in Berlin und begleitet Familien aus ganz Deutschland auf ihrem Weg zu erholsameren Nächten. Im Interview erklärt sie, warum es sogar gut ist, wenn Babys noch nicht durchschlafen, welche Rolle Rituale spielen und wie Eltern sanft – und ohne ihre Bindung aufs Spiel zu setzen – wieder zu mehr nächtlicher Ruhe finden können.

POLA Magazin: Viele Eltern sind verzweifelt, weil ihr Baby nicht durchschläft. Du sagst: „Das ist gut so!”. Warum ist das deiner Meinung nach der richtige Ansatz?

babyschlaf coaching helena düllHelena Düll: „Durchschlafen“ wird oft so verstanden, dass ein Baby die ganze Nacht schläft – ohne wach zu werden. Das ist jedoch in den ersten Lebensmonaten keineswegs normal. Denn: Babys sind von Natur aus nicht in der Lage, ohne Körperkontakt, nuckeln oder Bewegung zu schlafen. Dieses Verhalten kommt noch aus der Steinzeit. Für unsere Vorfahr:innen war Alleinsein eine große Gefahr, denn das hätte den sicheren Tod des Babys bedeutet. Auch heute noch sorgt die Co-Regulation durch die nächtliche Nähe zu einer Bindungsperson für diese Sicherheit.

Durch die Industrialisierung haben sich aber unsere Vorstellungen von Babyschlaf verändert. Viele erwarten deshalb von ihren Steinzeitbabys, dass sie alleine oder eben durchschlafen. Und natürlich ist es vollkommen verständlich, dass Eltern sich das wünschen. Dabei muss man aber auch realistisch sein. Gerade im ersten Lebensjahr sind nächtliche Mahlzeiten superwichtig für die Entwicklung. Ein Baby das nicht durchschläft, folgt seinem Entwicklungsrhythmus. Diese Perspektive kann müden Eltern schon oft dabei helfen, sich weniger alleine und versagt zu fühlen.

Was bedeutet „Durchschlafen“ bei Babys wirklich?

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Viele Eltern verstehen unter „Durchschlafen“, dass das Baby durchgehend acht Stunden oder gar mehr schläft. Doch das machen wir Erwachsenen oft nicht mal. Auch wir haben mal Durst, müssen auf die Toilette oder zuppeln an der Decke – im Unterschied zu Babys und Kleinkindern brauchen die meisten Erwachsenen anschließend aber keine Hilfe, um wieder in den Schlaf zu finden. Aber um die Frage zu beantworten: Wenn ein Kind etwa sechs Stunden am Stück schläft, sprechen wir von Durchschlafen.

Übermüdete Eltern fühlen sich oft sehr einsam, so als seien sie die Einzigen mit einem Baby, das nicht gut schläft. Was rätst du ihnen?

All diese Gefühle kenne ich aus eigener Erfahrung. Mein Partner und ich waren in den ersten Monaten nach der Geburt unseres Kindes sehr oft alleine mit der Erschöpfung und dem Gefühl, versagt zu haben. Der Austausch mit anderen Eltern hilft enorm: offene Gesprächsgruppen, Online-Foren oder auch ein vertrautes Gespräch mit einer Fachperson – all das entlastet. Wichtig ist, sich klarzumachen: Dieses Gefühl ist weit verbreitet, und alle wollen das Beste für sich und vor allem für ihr Kind. Alleine zu hören, dass man nicht alleine ist und zu wissen, was „normal” ist, tut oft schon wahnsinnig gut.

Welche Rolle spielt gesellschaftlicher Druck beim Thema Babyschlaf und wie können Eltern damit umgehen?

Sehr viele Eltern erzählen mir, dass sie ständig gefragt werden: „Schläft es denn schon durch?“. So als wäre das der Maßstab schlechthin für eine gute Elternschaft. Fragen wie diese können auf Dauer aber sehr belastend für Eltern sein. Deshalb ist es wichtig, sich in diesen Momenten bewusst zu machen, dass die meisten solcher Fragen tatsächlich eher Neugierde oder alten Glaubenssätzen entspringen. Eltern dürfen hier klar für sich Stellung beziehen und sagen: „Nein, mein Kind schläft nicht durch – und das ist völlig okay.“ Denn jedes Kind hat sein eigenes Tempo, auch beim Thema Schlaf. Sich von gesellschaftlichen Erwartungen frei zu machen, ist der erste Schritt hin zu mehr Gelassenheit. Das gilt übrigens auch für viele andere Bereiche der Elternschaft.

Doch nicht immer reicht das. Ab wann ist es sinnvoll, sich Hilfe von einer Expertin wie dir zu holen?

Ich arbeite bindungsorientiert und habe dabei stets alle Familienmitglieder, gleich welcher Konstellation, im Blick. Daher gilt bei mir die Faustregel: Wenn die Schlafsituation für ein Familienmitglied dauerhaft belastend ist, ist es ratsam, sich Hilfe zu holen. Ich coache nicht, bevor ein Kind nicht fünf, besser sechs Monate ist, das wäre nicht bindungsorientiert. Meine Arbeit beginnt dann, wenn sich Tagesstrukturen, Routinen und Gewohnheiten etabliert haben, an denen wir zusammenarbeiten können. Und das immer mit einer individuellen Begleitung, die in den Alltag der jeweiligen Familie passt. Starre Pläne gibt es bei mir nicht.

In Ratgebern findet man immer wieder Methoden wie „Schreien lassen“ (Cry-it-out) nach Dr. Weissbluth oder das klassische „Ferbern“ (aus dem Buch „Jedes Kind kann schlafen lernen“). Was hältst du davon?

Ich distanziere mich deutlich von solchen Schlaftrainings, die auf das konsequente Ignorieren von Kindern abzielen. Dazu gehört zum Beispiel auch die Stuhlmethode, bei der sich Eltern zunächst auf einen Stuhl direkt neben das Bett des Kindes setzen und es so ohne körperliche Hilfe einschlafen muss. Über einen festgelegten Zeitraum wird der Stuhl schrittweise weiter weggezogen, bis das Kind schließlich komplett ohne die Eltern einschlafen muss.

Schlaftraining übersieht das Bedürfnis nach Bindung und Sicherheit und kann, insbesondere bei Babys und Kleinkindern, zu nachhaltigem Stress führen und Ängste fördern. Stattdessen setze ich auf sanfte, bindungsorientierte Methoden, die in kleinen Schritten im Tempo des Kindes stattfinden und die die emotionalen Bedürfnisse respektieren. Das heißt übrigens nicht, dass euer Kind nie weinen wird. Gerade in den ersten Lebensmonaten ist Weinen die einzige Kommunikationsmöglichkeit für Babys, ihre einzige Möglichkeit, uns mitzuteilen, dass sie etwas doof finden oder sich unwohl fühlen.

Der Unterschied zum Schlaftraining besteht darin, dass ihr euer Kind nie mit seinen Emotionen alleine lässt, sie stattdessen begleitet und das alles auf der Basis der natürlichen Entwicklungsschritte. Schlaftraining, bei dem Babys über längere Zeit alleine schreien, kann Stresshormone wie Cortisol erhöhen. Das wiederum belastet die Bindung und das Urvertrauen. Wenn wir Babys nicht angemessen begleiten und ihre Gefühle umgehen, können sie das als Zurückweisung empfinden. Denn: Bindung entsteht durch Reagieren, nicht durch Ignorieren. Deshalb ist mir wichtig, dass wir die Gefühle eures Kindes ernst nehmen, auch wenn wir Grenzen setzen. Denn nur so kann Schlaf eine vertrauensvolle Erfahrung sein.

Viele Eltern wünschen sich mehr Schlaf. Wie können sie ihr Baby sanft unterstützen?

Viele Eltern, die zu mir kommen, unterschätzen, wie wichtig die Strukturen am Tag sind und wie sehr die sich auf die Nacht auswirken können. Klare, aber im Alltag flexible Strukturen schaffen Sicherheit und Vorhersehbarkeit. Ein liebevolles Einschlafritual sorgt für selbiges. So wird euer Kind bestmöglich auf den Schlaf vorbereitet. Wichtig ist auch eine gute und sichere Schlafumgebung, hier verweise ich auf die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Dazu gehört es, das Baby mit einem Schlafsack zum Schlafen auf den Rücken in ein leeres Bettchen (keine Bettdecken, Kissen, Kuscheltiere oder Nestchen) zu legen. Das Babybett sollte im Elternschlafzimmer stehen und das sollte eine Raumtemperatur zwischen 16 und 18 Grad Celsius haben. Wichtig ist es auch, nicht in der Wohnung zu rauchen. Die WHO empfiehlt im ersten Jahr außerdem zu stillen, wenn möglich. Nicht zuletzt spielen auch Faktoren wie ein gefüllter Bindungstank oder das Mindset und die Reaktion der Bezugsperson in der (Ein-)Schlafsituation eine Rolle. Da jede Familie und jedes Kind andere Bedürfnisse haben, bin ich aber mit pauschalen Aussagen vorsichtig, das wäre unseriös.

Wie stehst du denn zum Familienbett?

Ob ein Familienbett eine gute Idee ist, hängt von der Familie ab und ist eine individuelle Entscheidung. Manche Menschen brauchen Nachts die Nähe, andere schlafen alleine besser. Solange alle Familienmitglieder dort erholsam schlafen können und sich die Familie bezüglich möglicher Gefahren wie Decken, Überhitzung oder Rausfallschutz an die genannten Empfehlungen hält, spricht nichts dagegen.

Du hast Rituale und Routinen schon angesprochen. Warum sind sie so wichtig?

Wenn die Tage ungefähr gleich ablaufen, wird es auch mit etwas Übung der Schlaf. Das macht es für Kinder und Eltern einfacher. Eine verbindliche Routine am Abend – und in abgespeckter Version auch bei den Tagschläfchen – gibt Sicherheit. Hier ist weniger oft mehr. Je nach Alter des Kindes kann das ein Buch sein, aber auch eine Massage oder ein Lied können schon dabei helfen, den Übergang in den Schlaf zu markieren und so Orientierung zu geben. Übrigens ist es genauso wichtig, auch bei nächtlichem Erwachen konsistent, ruhig und für das Kind vorhersehbar zu reagieren. Viele Eltern greifen hier aus Angst vor Tränen zu früh ein.

Hier hilft es oft schon, sich selbst einen Moment aus der Situation herauszunehmen und die Gefühle des Kindes mitzugehen. Sprich: Turnt mein Kind nur herum oder blubbert fröhlich vor sich hin, lasse ich es machen und greife erstmal nicht ein. Erst wenn es quengelig wird, unterstütze ich mit leichter passiver Beruhigung. Das heißt, ich streichle es, kuschle oder mache Shhh-Geräusche. Erst, wenn es wirklich ins Weinen kommt, nehme ich das Kind auf den Arm und trage es gegebenenfalls. Viele Eltern tendieren dazu, ihr Kind sofort hochzunehmen und verwehren ihm so die Möglichkeit zu lernen sich selbst zu regulieren, was ja auch außerhalb des Schlafthemas wichtig ist.

Manche Eltern haben Angst, ihr Baby zu sehr zu verwöhnen, wenn sie es nachts trösten oder tragen. Wie begegnest du dieser Sorge?

Nähe ist niemals Verwöhnen. Im Gegenteil: Ein Baby, das sich sicher geborgen fühlt, entwickelt langfristig ein gesundes Selbstvertrauen. Eltern dürfen nachts trösten, stillen, nahe sein. All das gibt Kindern Sicherheit und ist gerade in den ersten Monaten absolut wichtig für die Bindung. Problematisch wird es erst dann, wenn es für die Eltern zur Dauerbelastung wird, ihr Kind so zu begleiten. Dann dürft ihr gerne etwas daran ändern. Denn auch eure Bedürfnisse sind wichtig.

Eine Frage, die sich auch viele Eltern stellen, ist: Muss mein Baby einschlafen können, ohne gestillt oder getragen zu werden?

Stillen, Tragen, Schaukeln oder körperliche Nähe sind ganz natürliche Einschlafhilfen, die Babys seit Jahrtausenden begleiten. Das bedeutet nicht, dass Kinder ihr Leben lang so einschlafen werden. Mit zunehmendem Alter entwickeln sie ganz von alleine mehr Fähigkeiten zur Selbstregulation. Manche Babys genießen es, in den Schlaf gestillt zu werden, andere lieben das Tragen oder Körperkontakt. Wichtig ist auch hier, dass es für die Familie praktikabel und angenehm bleibt. Wenn Eltern merken, dass sie an ihre Grenzen stoßen, kann man sanft, ohne Zwang und Druck und im Tempo des Kindes Schritt für Schritt daran arbeiten, die Ein- und Weiterschlafsituation zu flexibilisieren.

Wie lange dauert es, bis sich Schlafgewohnheiten so spürbar verbessern?

Auch hier ist es schwer, pauschale Aussagen zu treffen. Oft zeigen sich positive Veränderungen innerhalb von drei bis acht Wochen. Das hängt jedoch von eurer Familie, dem Kind und der Konsequenz der Eltern ab.

Wir danken dir für das Interview!

Helena ist Mama eines Kindes, zertifizierte, bindungsorientierte Schlafcoachin und Gründerin von Helena Düll, Babyschlaf.

Foto Helena © Tina Blech

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