Kolumne: Jugend mit Tugend

Kolumne Jugend mit Tugend

Wenn ich versuche, in Anwesenheit meines 5-jährigen Sohnes ein Telefonat zu führen, ist das ein bisschen so, als würde mich ein Spezialeinsatzkommando überraschend festnehmen. Sobald das mobile Endgerät mein Ohr erreicht hat, stürmt der Junge die Situation und überrumpelt mich mit seinem Mitteilungsbedürfnis. Kinderarme zerren an mir und machen mich bewegungsunfähig. Die Sprachkanone schießt unerbittlich ihre „Mama, Mama, Mama“-Salven auf mich ab, obwohl er durchaus wahrnimmt, dass ich telefoniere. Mit protestierender Miene und einarmig gestikulierend kann ich den Zugriff nicht abwehren. Das Telefongespräch hat keine Chance mehr. Ich kann nur noch ein „Ich rufe gleich zurück“ ins Telefon pressen und habe dann das Recht, zu schweigen, um mir anzuhören, was das Ein-Mann-SEK sich zum Geburtstag wünscht.

Nein, danke!

Die eigene Spielzeugausstattung wird also von langer Hand geplant, aber zwei Minuten abwarten ist nicht drin? – Charmant ist das nicht, aber altersgemäß. Der Verstand kann sich bereits auf ein Ereignis in der Zukunft freuen, die Geduld dafür fehlt leider noch. Die Fähigkeit zur Impulskontrolle muss im kindlichen Gehirn erst reifen. Aber es ist nicht das Einzige, was ihm für ein sozialverträgliches Verhalten noch fehlt. Als das Nachbarskind neulich klingelte und fragte, ob er zum Spielen rauskommen wolle, antwortete er „Nein“ und schlug die Tür zu. Das ist selbst im Raum Berlin/Brandenburg etwas grob. Ihm fehlt offensichtlich das nötige Feingefühl. Im Umgang mit anderen braucht es vor allem Höflichkeit.

Gerade weil Kinder in ihrer Entwicklung noch sehr auf sich bezogen sind, hilft ihnen Höflichkeit, sich zu orientieren. Deswegen achte ich sehr darauf, meinem Sohn im Alltag Freundlichkeit vorzuleben und ihn seinerseits zu ermutigen, ebenfalls betont wertschätzend aufzutreten. Er soll z.B. sein Eis im Eisladen selbst bestellen und kennt mittlerweile den Ablauf aus Blickkontakt zum Personal suchen, Begrüßung, Bestellung und Verabschiedung so gut, dass er nicht selten noch ein Sahnehäubchen obendrauf bekommt. Der Erfolg seines freundlichen Auftretens bringt ihm Anerkennung – und das gute Gefühl, etwas bewirken zu können– das stärkt auch das Selbstvertrauen.

Umsonst, aber viel wert

Kinder zur Höflichkeit zu erziehen, heißt daher nicht, sie zu dressieren, sondern ihnen einen sozialen Kompass an die Hand zu geben, der sich sinnvoll anfühlt. Deswegen erkläre ich, dass der Eisverkäufer sich über ein respektvolles „Danke“ freut und seine Arbeit mehr Spaß macht, wenn er Anerkennung dafür bekommt. Wertschätzende Umgangsformen sind zudem eine gute Übung zur Impulskontrolle. Wenn Kinder lernen, nicht sofort zu unterbrechen, sondern zu warten, zu fragen oder Rücksicht zu nehmen, trainieren sie, ihre Impulse zu zügeln. Als mir neulich auf dem Spielplatz ein 6-Jähriger immer wieder mit seinem Spielzeugtrecker durchs Haar fuhr und das nervige Beackern meiner Frisur trotz mehrfacher Bitten einfach kein Ende nahm, wurde mir wieder bewusst, wie schwer es auch Erwachsenen manchmal fällt, die eigenen Impulse im Zaum zu halten. Besonders, wenn der Vater des Kindes teilnahmslos dabei zusieht, wie das eigene Kind penetrant Grenzen überschreitet.

Je früher bestimmte Umgangsformen selbstverständlich werden, desto leichter bleiben sie auch in späteren Entwicklungsphasen erhalten. Kinder brauchen Übung, um sich selbst zu zügeln und auch, um anderen Raum zu lassen. Denn höflich zu sein heißt auch, Grenzen zu respektieren. Um die Grenzen anderer achten zu können, muss man immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass auch die eigenen respektiert werden. So entsteht Vertrauen und die Fähigkeit, den erfahrenen Respekt auch weiterzugeben.

Selbstermächtigung

Im Kindergarten hilft ein deutliches „Halt! Stopp! Ich will das nicht!“, um Grenzen auszudrücken. In der Erwachsenenwelt werden die meisten Grenzen eher durch freundliche Formu-lierungen abgesteckt. Höflichkeit ist dann die liebreizende Verpackung für die ernste Sache mit dem Nein. Zuhause versucht mein Sohn bereits mit dem Argument „Mein Körper gehört mir“ vor allem die Grenzen für die Schlafenszeit, den Süßigkeiten- und Fernsehkonsum auszuloten. Er erkennt die Regeln an und testet aus, welchen Spielraum sie haben. Er weiß, dass sie flexibel sind und manchmal angepasst werden können. Ich bin bereit, ihm hier und da entgegenzukommen, wenn ich dafür mal in Ruhe telefonieren darf.

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