Rund um die Schwangerschaft und Geburt gibt es viele Fragen. Unsere Expertin, die Potsdamer Hebamme Sandrina Seide, hat hier zu verschiedenen Themen die wichtigsten Antworten und Tipps für euch.
Wie kommt es zu einer Wochenbettdepression?
Die Wochenbettdepression ist eine behandlungsbedürftige depressive Episode, die in der Regel innerhalb der ersten 6 Wochen, aber auch bis zu 12 Monaten nach der Geburt beginnt. Sie ist durch anhaltende gedrückte Stimmung, Erschöpfung, Interessenverlust und Schuldgefühle gekennzeichnet und kann die Mutter-Kind-Bindung sowie die Alltagsbewältigung erheblich beeinträchtigen.
Sie unterscheidet sich von dem so genannten Baby Blues, welchen 50-80% aller Frauen in den ersten Tagen nach der Geburt haben, welcher aber auch nach kurzer Zeit wieder abklingt. Die Symptome des Baby Blues sind Stimmungs- und Gefühlsschwankungen, Traurigkeit, „grundloses“ Weinen und manchmal Ängstlichkeit oder Verwirrtheit. Der Baby Blues braucht keine medizinische Behandlung. Es braucht Zeit und Raum, Verständnis, Zuwendung und Geduld. Abwertende Begrifflichkeiten wie „Heultage“ sollten vermieden werden. Betroffene Frauen brauchen viel Ruhe.
Dagegen hält eine Wochenbettdepression mindestens 2 Wochen an und kann unbehandelt viele Monate bleiben. In Deutschland geraten jedes Jahr 70.000 bis 105.000 Frauen in Zusammenhang mit der Geburt ihres Kindes in eine psychische Krise, das sind etwa 10 bis 15%. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen, weil viele Frauen aus Scham, Unwissenheit oder Angst vor Stigmatisierung keine Hilfe suchen. Die Schwangerschaft, Geburt und das Wochenbett sind eingreifende vielschichtige Veränderungen, welche eine große Herausforderung für Körper und Psyche bedeuten und eine enorme Anpassungsleistung erfordern. Die Wochenbettdepression ist nicht einfach eine Krankheit, die zufällig auftritt, sondern oft das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus biologischen, psychischen und sozialen Faktoren.
Frauen, insbesondere Mütter, sind nach der Geburt oft in einem Zustand erhöhter Sensibilität. Sie spüren feine Signale des Babys, um darauf reagieren zu können. Das ist evolutionär sinnvoll und sichert das Überleben des Kindes. Diese erhöhte Sensibilität geschieht durch hormonelle, körperliche und soziale Prozesse. Diese „Offenheit“ kann jedoch auch alte ungelöste Themen an die Oberfläche bringen. Man sagt auch „das Herz ist offen für das Kind, aber auch offen für alte Wunden“. Alte Traumata, wie Missbrauch, emotionale Vernachlässigung oder eine Bindungsstörung kommen hoch. Unerfüllte eigene Bedürfnisse aus der Kindheit werden spürbar, wie „ich möchte meinem Kind geben, was ich nie hatte.“
Was kann eine Wochenbettdepression auslösen
Zusätzlich verändern sich die Hormone radikal. Das Östrogen und Progesteron fallen ab und das Oxytocin schwankt. Massiver Schlafmangel, körperliche Erschöpfung und körperliche Veränderungen, welche erst noch angenommen und akzeptiert werden müssen, kommen dazu. Das kann unter anderem auf die Stimmung drücken und eine Wochenbettdepression bei entsprechender Veranlagung auslösen oder verstärken.
Viele Frauen werden mit inneren Selbstbildern in ihrer Mutterrolle konfrontiert. Bin ich gut genug? Heutzutage tragen Frauen eine enorme Last. Sie wollen eine gute Mutter, eine attraktive Frau und starke Partnerin sein. Niemandem zur Last fallen, keine Schwäche zeigen und am besten einfach so weitermachen wie vor der Geburt. Es gibt einen starken gesellschaftlichen Druck und gleichzeitig mangelnde Unterstützung.
Viele Familien leben weit entfernt. Das sogenannte Dorf, das es braucht, um ein Kind großzuziehen, ist heutzutage nicht oder kaum noch existent. Frauen wird suggeriert, dankbar sein zu müssen, schließlich haben sie sich ja für dieses Kind entschieden. Diese gesellschaftlichen Tabus, dass man nicht sagen darf, dass man sich überfordert, leer oder unglücklich fühlt und gleichzeitig ja sein Kind über alles liebt, macht es Frauen oft schwer, über ihre Gefühle zu reden und diese zu benennen. Die Gleichzeitigkeit der Dinge, dieser Gefühle, ist natürlich möglich und muss anerkannt und gesehen werden. Es muss normal werden, darüber zu reden! Es herrscht eine große Kluft zwischen innerem Erleben und äußeren Erwartungen von Familie, Freunden und Gesellschaft. Das ist ein großer Risikofaktor.
Des Weiteren ist Mutterschaft ein Prozess des Loslassens. Frauen lassen die Kontrolle über ihren eigenen Körper los, über ihre Zeit, ihren Schlaf, über ihr Leben. Viele erleben dieses Loslassen als Verlust ihrer alten Identität, besonders beim ersten Kind. 24/7 verantwortlich für ein hilfloses Wesen zu sein, zuvor strukturiert und immer alles im Griff zu haben und selbstbestimmt zu sein. Jetzt ist plötzlich alles neu, kaum planbar und fremdbestimmt. Das sind massive Veränderungen, welche viel Unterstützung, Halt und Verständnis fordern.
Konfliktbeladene Paarbeziehungen können diesem Wandel wenig Halt geben. Die emotionale Unterstützung durch den/die Partner:in ist besonders wichtig. Ist diese Beziehung jedoch durch Konflikte belastet, fühlt sich die Mutter häufig allein gelassen, unverstanden und kritisiert. Der fehlende Rückhalt kann hier eine Überforderung, Hilflosigkeit oder Isolation verstärken, welches zentrale Risikofaktoren für eine Wochenbettdepression sind. Konflikte in der Partnerschaft bedeuten zusätzlichen psychischen Stress. Chronischer Stress führt nachweislich zu weiteren hormonellen Veränderungen (Cortisolanstieg). In einer gleichwertigen Beziehung teilen sich Partner oft intuitiv Aufgaben wie Wickeln, Füttern, nächtliches Aufstehen. In einer konflikthaften Beziehung kommt es dagegen eher zu Unklarheiten oder einem Ungleichgewicht, welches das Risiko der Erschöpfung erhöht. Das soziale Netz wird geschwächt, der emotionale Stress steigt und die wichtigen Ressourcen zur Bewältigung der neuen Lebenssituation werden vermindert.
Eine als traumatisch erlebte Geburt kann ein großer Risikofaktor für eine postpartale Depression sein. Gefühle von Kontrollverlust, ausgeliefert zu sein oder nicht gehört worden zu sein, kann das Vertrauen in den eigenen Körper und die eigenen Kompetenzen als Mutter erschüttern.Wenn intensive Ängste unter der Geburt im Nachgang nicht aufgearbeitet werden, kann das zu einer psychischen Belastung werden. Viele Frauen haben starre und klare Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen an die Geburt. Selten laufen Geburten nach einem fixen Plan ab. Wird die Geburt dann ganz anders erlebt als gewünscht, kann das zu Frustration, Enttäuschung oder sogar Selbstvorwürfen führen. Diese inneren Konflikte können das emotionale Wohlbefinden stark beeinträchtigen.
Eine PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) nach traumatisch erlebter Geburt zeigt sich durch Flashbacks, Schlafstörungen, Reizbarkeit, emotionale Taubheit oder Vermeidungsverhalten. Die Lebensqualität wird sehr stark beeinträchtigt. Die psychische Stabilität ist erschüttert, Gefühle wie Angst, Schuld, Hilflosigkeit oder Scham können ausgelöst werden. Es braucht eine angemessene Verarbeitung in Form einer psychologischen Nachsorge, Ge-spräche mit Fachpersonen oder eine gezielte Traumatherapie.
Manchmal fällt es Frauen schwer, eine unmittelbare emotionale Bindung zu ihrem Neugeborenen aufzubauen. Sei es durch körperliche Erschöpfung, emotionale Distanz oder Schuldgefühle. Diese Gefühle können die Freude an der Mutterschaft hemmen und das Gefühl vom Versagen stärken. Ein Teufelskreis.
Eine Frühgeburt kommt oft unerwartet. Der plötzliche Geburts-beginn, medizinische Notfälle, oder Sorgen um das Überleben des Kindes führen zu einem Schockzustand. Frühgeborene benötigen intensivmedizinische Betreuung auf der Neonatologie und häufig treten Schuldgefühle auf, „War mein Körper nicht gut genug? Was habe ich falsch gemacht?“ Das erste Bonding ist erschwert oder nur stark verzögert möglich. Der langanhaltende Krankenhausaufenthalt führt zu einer chronischen Belastung. Die Stillbeziehung ist eventuell nur schwer aufzubauen.
Auch Männer können betroffen sein! Die postpartale Depression bei Männern ist noch lange nicht so gut erforscht, aber unbestritten vorhanden. Die Geburt eines Babys als massiver Lebensumbruch betrifft Väter genauso.
Was kann ich tun?
Hast du bei dir selbst oder jemand anderen den Verdacht auf eine Wochenbettdepression, ist es wichtig, frühzeitig zu handeln! Sprich offen mit deinem/deiner Partner:in, Freundin, deiner Hebamme oder jemandem, dem du vertraust. Dieser erste Schritt kann ent-lasten!
Hebammen erkennen frühe Anzeichen einer Wochenbett-depression und können gezielt unterstützen und weitervermitteln. Gynäkologische Praxen, sowie Hausärztliche Praxen sind eine erste Anlaufstelle und können an Psycholog:innen oder Psychotherapeut:innen überweisen.
Es ist okay, nicht glücklich zu sein. Heilung beginnt oft da, wo man sich traut, ehrlich zu sein.
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