Kolumne: Reden ist Silber, Streiten ist Gold

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Als mein Freund und ich ein Paar wurden, sagte er gleich am Anfang mal, er freue sich sogar aufs Streiten mit mir. Heute, acht Jahre später, erinnere ich ihn gern an seine verliebte Vorfreude. Besonders, wenn wir mitten in einer hitzigen Diskussion stecken. Er antwortet dann, er habe ja nicht wissen können, dass ich gar nicht streiten kann, was in der Regel so deeskalierend wirkt wie das berühmte Öl fürs Feuer. Trotzdem hat er nicht unrecht, denn Streiten ist eine soziale Form des Umgangs, die man lernen kann. 

Kleinkinder reagieren auf Konflikte noch standardmäßig mit Geheul. Mit fortschreitender Entwicklung gibt es zunehmend mehr Optionen, die eigenen Bedürfnisse etwas konkreter zu vermitteln. „Argumente“ werden aber oft noch sehr rabiat vorgetragen, sodass es häufig Erwachsene braucht, um die klebrige Kinderfaust wieder aus dem Haar des schreienden Spielfreunds zu lösen. Aber schon ab dem vierten Lebensjahr sind Kinder in der Lage zu verstehen, dass man dieselbe Sache unterschiedlich erleben kann und dass andere Menschen eigene Gedanken und Gefühle haben. Jetzt können Kita-Kinder eine lösungsorientierte Streitkultur entwickeln. Sozial erwünschtes Verhalten lernen die kleinen Kratzbürsten am besten am Modell, z.B. durch die Eltern.

Streiten für Fortgeschrittene

Das heißt, man muss gar nicht warten, bis der Nachwuchs im Bett ist, um zu Hause ein ordentliches Fass aufzumachen. Das Problem ist ja nicht, dass es Konflikte gibt, sondern wie sie ausgetragen werden – eine gute Gelegenheit für Eltern, die eigenen Streitfähigkeiten zu trainieren. Die meisten Menschen sind sich einig, dass die gängigen Streitregeln eingehalten werden sollten: ausreden lassen, zuhören und wieder von vorn, solange bis man einen dieser Kompromisse gefunden hat, die am Ende niemanden so richtig zufrieden machen. Klingt theoretisch ganz einfach, wären da nicht ein Haufen Emotionen, die einem in die Theorie grätschen wie ein verzweifelter Abwehrspieler in den Torjäger. Wut, Ärger, Angst, Hilflosigkeit, Scham, Frust und noch einige andere Gefühle können selbst das sanfteste Gemüt zum Kinski reizen. Da braucht es manchmal nur ein einziges falsches Wort und das Streitpärchen eskaliert. Es läuft besser, wenn man sich drei Dinge merkt: 1. Ein Streit ist kein Krieg. 2. Mein Gegenüber will mir nichts Böses, auch wenn es mich kritisiert. 3. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, bin ich immer noch ein richtiger Mensch. 

Das hilft vor allem Leuten wie mir, die Kritik schnell persönlich nehmen, und bildet außerdem die Grundlage für die sogenannte wertschätzende Kommunikation. Der Goldstandard in Sachen Konflikt sieht vor, dass jeder Raum bekommt, seinen Unmut zu äußern. Anschließend sollen die Streithammel ihren Gefühlen nachspüren, die der Missstand auslöst, um schließlich einen Vorschlag zu machen, wie mit der Situation umgegangen werden soll. Mit dem Konzept „Erzählen, Fühlen, Wünschen“ lernen Kinder und Erwachsene, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und ernst zu nehmen, aber gleichzeitig auch, die Wünsche des anderen zu respektieren.

Alles, immer, nie

Zwischen meinem Freund und mir klappt das schon ganz gut, aber wie streitet man mit einem 5-Jährigen, der sich kurzerhand die Finger in die Ohren steckt und Bla, bla, bla ruft, sobald man mit dem Erzählen beginnt? Die wertschätzende Kommunikation lebt vom Miteinander, verdammt nochmal! Meinem Sohn ist das egal. Auf das Gespräch hat er schon mal keine Lust und auch das Fühlen scheint mir eine Sackgasse zu sein. Als ich ihn einmal freundlich bat, sich selbst einen Becher mit Wasser zu holen, weil ich Schaumbad-bedingt verhindert war, wurde er plötzlich sehr wütend. ALLES müsse er IMMER selbst machen. NIE würde ihm jemand etwas bringen, schrie er. Die anfängliche Begeisterung, Alltäglichkeiten ganz allein zu bewältigen, ist offenbar sehr schnell einer großen Bequemlichkeit gewichen. Sein Wunsch war klar, er hätte gern Personal. Weil wir uns das nicht leisten können, bemühte ich mich also doch wieder um das Gespräch, sobald seine Emotionen etwas abgekühlt waren. 

Gefühle sind immer Ausdruck davon, ob ein Bedürfnis erfüllt ist oder nicht. Vor allem, wenn Kinder miteinander spielen, geraten sie dauernd in Bedürfniskonflikte, die Auslöser für Streit sein können. Durch das Versagen von Besitzanspruch (Das ist meins), Erfolg (Ich will Erster sein) oder Zugehörigkeit (Ich darf nicht mitspielen) entstehen Frust und Wut. Die anschließende Eskalation in Vorwürfe und Vergeltung lässt Außenstehende nicht selten so hilflos zurück, wie die letzte Pressekonferenz von Tic Tac Toe. Und das ist auch gar nicht schlimm, denn Erwachsene sollen gar kein Urteil sprechen. Autoritäre Konfliktlösung durch Eltern, Erzieherinnen oder Lehrer tendiert dazu, einen Schuldigen zu identifizieren, der mit Anweisungen oder Strafen gemaßregelt wird. Eine gute Intervention lässt den Kindern eher Raum, sich zu äußern und sich an einer Lösungsfindung zu beteiligen. Durch die Moderation von Streitereien mit der Anregung zum „Erzählen, Fühlen, Wünschen“ ist der Konflikt für alle Beteiligten eine Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Die Gegenseitigkeit, das Erzählen und Verstehen machen Streit zu einem konstruktiven Prozess, der dazu führt, dass man sich selbst und andere besser kennenlernt. Wahrscheinlich war es das, worauf mein Freund sich vor acht Jahren so gefreut hat. 

Mittlerweile kennen wir uns ziemlich gut.

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