In Zeiten von Corona: “Kindes- und Elternwohl geht vor Schulaufgaben!”

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Toni (33) und Karo (34) haben sich 2007 während ihres Lehramtsstudiums in Potsdam  kennengelernt und nach dem Studium ihr erstes Kind (Maditha Elise, 9) bekommen. In ihrem Referendariat kam dann ihr 2. Kind (Willem Arthur, 7) auf die Welt. Nach zehn Jahren in Potsdam entschieden sie sich auf das Land nach Mecklenburg Vorpommern zu ziehen. Karo wurde die Stadt zuviel und auch für ihre Kinder wünschten sie sich ein anderes Aufwachsen. Dort haben die vier erstmal eine Wohnung in einem alten Backsteinhaus gemietet und drei Jahre das Landleben „geprobt“. Mittlerweile wohnen die fünf (August Alwin wurde 2018 geboren) in einem großen Haus mit einem riesigen Grundstück und fühlen sich dort mit ihren Katzen, Hühnern, Kaninchen, Enten und Schafen pudelwohl. 

Wir haben Karo und Toni interviewt, denn wir wollten erfahren, wie es einer Großfamilie in Zeiten von Corona auf dem Land ergeht und wie sie das Homeschooling mit ihren zwei Schulkindern meistern.

POLA Magazin: Liebe Karo, lieber Toni, seit wann wohnt ihr in Bredenfelde und war es immer ein großer Traum von euch, einen eigenen Bauernhof auf dem Land zu besitzen?

Karo: Nach Bredenfelde sind wir zwei Wochen vor der Geburt unseres dritten Kindes gezogen, also im Oktober 2018, nachdem wir das Haus kernsaniert und ganz nach unseren Vorstellungen und zum Glück mit tollen Handwerkern gestaltet haben. Für mich war es nicht immer klar, dass ich wieder so leben möchte, wie ich aufgewachsen bin. Als Kind und Jugendliche habe ich mich oft auch als Sklave des Hofes gefühlt. Das wollte ich weder für meine Kinder, noch für meinen Partner oder für mich. Toni ist in einer Stadt groß geworden, konnte sich aber auch ein Leben auf dem Land gut vorstellen. Wir beide wollten langfristig auf jeden Fall irgendwo ein Haus mit Garten, aber um Potsdam herum wäre es finanziell nie möglich gewesen. Und als unser Referendariat dann zu Ende war, war es der perfekte Zeitpunkt, den Ort zu wechseln – auch wenn Toni gern noch länger dort geblieben wäre.

Wenn es nach uns gegangen wäre, dann hätten wir am liebsten viele Potsdamer Freunde mit hierher genommen. Aber man kann nunmal nicht alles haben. Und nachdem wir das Landleben in der Mietwohnung einige Zeit gemeinsam proben konnten, haben wir festgestellt, dass wir so leben möchten – nur mit noch mehr Platz. Nun wohnen wir tatsächlich auf 260qm und haben 4000qm Grundstück mit alten Obstbäumen, Garten und Tieren, die wir tatsächlich hauptsächlich zur Nutzung halten. Das Haus ist ein altes Backsteinhaus – eine ehemalige „Schnitterkaserne“ von 1903. Auf dem Grundstück stehen noch zwei Scheunen und ein Stall. Viel Arbeit und viel Raum für Ideen. Das Gute ist: Es jagt uns niemand!

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Was genießt ihr und eure Kinder an dem Landleben besonders?

Toni: Die Kinder genießen eindeutig die Freiheit, die das Landleben mit sich bringt. Tür auf und los geht’s. Es gibt im Dorf auch gleichaltrige Kinder. Gerade heute haben Maditha und Willem den alten Schafstall gestrichen – der soll ihr „Clubhaus“ werden. Der Wald ist vor der Tür. Und dieie Kinder gärtnern auch schon mit und freuen sich über die Ernte. Sie erleben den Lauf der Jahreszeiten hautnah und lernen jeden Tag viel über die Pflanzen- und Tierwelt. Und sie können ihren Bewegungsdrang grenzenlos ausleben. Auf Bäume klettern, mit dem Fahrrad über Feldwege brettern, Schlammschlachten und Regentänze machen. Das Landleben in Kombination mit der Pubertät wird uns möglicherweise noch einmal herausfordern, aber soweit ist es ja noch nicht.

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Karo: Ich habe es so sehr genossen, den ersten Apfel vom eigenen Apfelbaum zu essen. Es gibt nichts Schöneres. Zu Beginn haben sich Mitglieder meiner weiteren Familie über mich gewundert: Karo du? Katzen? Hühner? Gartenarbeit? Ja – ich gebe zu, ich habe als fluchende Jugendliche mal geäußert, dass ich am liebsten alles zubetonieren würde, weil es mich genervt hat, immerzu an der Verschönerung meines väterlichen Hofes arbeiten zu müssen, anstatt ihn genießen zu dürfen. Aber nun hatten wir die Chance, alles nach unseren Vorstellungen zu gestalten und zu leben – und das tun wir. Wir balancieren auch immer wieder aus, wenn etwas zu viel wird. Dann reduzieren wir z.B. die Tiere oder mähen weniger Rasen und so weiter. Auch zwingt uns niemand, einen Kartoffelacker zu bestellen. Wenn wir es wollen, dann machen wir es. Und nur dann macht es Freude. 

Bis vor Kurzem haben wir tatsächlich noch die eigenen Kartoffeln der letzten Ernte gegessen. Auch unser Gefrierschrank ist voll mit eigenem Fleisch. Wir müssen keine Eier kaufen. 

Toni: Ich genieße die Freiheit, die ich hier habe. Für mich bedeutet diese Freiheit auch, mich ausprobieren zu dürfen. Ich arbeite gern mit meinen Händen und kann mich in vielen Bereichen versuchen und lernen. Für unsere Kinder finde ich den direkten Kontakt zur Natur wichtig, den ich auch sehr genieße. Sie sind dabei, wenn wir anpflanzen. Ich hoffe, dass sie dadurch mehr Wertschätzung für gute Lebensmittel erlernen, denn es ist einfach schön, durch den eigenen Garten zu gehen und Obst und Gemüse zu ernten, Kartoffeln zu buddeln oder Apfelsaft pressen zu lassen.

Und haben alle von euch eine feste Aufgabe, wie zum Beispiel Hühner füttern oder Eier einsammeln oder bleibt das doch immer an euch hängen?

Karo: Wir haben uns dagegen entschieden, feste Aufgaben zu verteilen. Langfristig wünschen wir uns, dass die Kinder selbständig Verantwortung für ein gelingendes Miteinander übernehmen. Wir binden die Kinder in die täglichen Aufgaben und Routinen ein – zum Beispiel Essen kochen, Tisch auf- und abdecken. Es geht uns um das gemeinsame Tun und um gegenseitige Unterstützung. Wir wünschen uns, dass die Kinder die Notwendigkeit spüren, mitzuwirken und dass sie Aufgaben mit Freude und aus innerer Motivation heraus tun. Das gilt auch für die Versorgung der Tiere. Wir hoffen, dass sie lernen, dass man gemeinsam effektiver und schneller sein kann und so Familienzeit gewinnt. Aus meiner eigener Erfahrung ist Zwang grundsätzlich kontraproduktiv. Und gemeinsame Projekte machen ja sowieso Spaß: ein Hochbeet anlegen, eine Schaukel anbauen, Hühner einfangen und so weiter. 

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Wie sieht (normalerweise) ein ganz normaler Tag bei euch aus?

Karo: Wir stehen vor dem ersten Hahnenschrei auf: zwischen 5:30 und 6 Uhr. Selten schaffen wir es ohne Stress aus dem Haus. Wir essen morgens immer gemeinsam und fahren dann in unterschiedliche Richtungen. Toni fährt mit August zur Tagesmutter und dann zur Arbeit. Ich nehme die beiden Großen, setze sie an deren Schule ab und fahre dann weiter zu meiner Schule. 

Toni: Wir sind in der Regel bis 15 Uhr in der Schule, dann beginnt das Nachmittagsprogramm – jedes der großen Kinder hat zwei Nachmittagstermine die Woche. Das bedeutet für uns Taxifahrer sein. Wir bringen die Kinder, warten dort und nehmen sie dann wieder mit nach Hause. Gegen 18 Uhr sind wir dann zurück, dann gibt es Abendbrot und noch ein wenig Familienzeit (z.B. Geschichte oder Andacht). Ab 20 Uhr geht es für uns meistens an den Schreibtisch: Unterricht vorbereiten. An Nachmittagen, an denen wir nicht unterwegs sind, versuchen wir so viel Zeit wie möglich draußen zu verbringen. 

Aufgrund von Corona sind Kindergärten, Schulen und damit auch eure Arbeitsstätten gerade geschlossen. Wie läuft euer Tag zurzeit ab? 

Karo: Anders. Schön. Entschleunigt. Frei. Wir sehen diese fünf Wochen als echte Chance für unsere Familie: Wir können noch mehr zu einem Team werden, auch die Geschwister untereinander. 

Wir machen jeden Sonntag Familienrat. Dort entsteht auch der Plan für die kommende Woche, wir beraten Schwierigkeiten, die aufgetreten sind und tauschen Lob und Dank aus. Alle Tage haben die gleiche Grundstruktur: Die Zeit, wann das Essen auf dem Tisch stehen muss, wird von unserem Jüngsten bestimmt. Vormittags machen die Großen ungefähr zwei Stunden Schule. Sie haben Aufgaben von ihren Lehrern erhalten. Zusätzlich forschen sie noch nach eigenen Interessen oder vertiefen sich in bestimmte Dinge, wie zum Beispiel Origami. Maditha schreibt oft Geschichten oder Gedichte. Beide sind auch gern in unserem Kreativraum. 

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Wenn August Mittagsschlaf hält, haben zumindest wir Erwachsenen die Chance, etwas Individuelles zu tun: Sei es arbeiten oder entspannen. Der Nachmittag wird völlig frei gestaltet. Die Kinder haben sich zu Beginn der Schulschließungen Ideen überlegt, die sie in dieser Zeit gerne umsetzen wollen. Wir Eltern nutzen die gewonnene Zeit im Garten.

Toni: Es ist herrlich, so selten Auto fahren zu müssen. Wir waren schon eine Woche nicht mehr tanken. Das passiert selten. Wir wissen, dass wir in diesen Zeiten besonders privilegiert sind. Wir haben Platz und Natur. Dafür sind wir sehr dankbar. Desweiteren nehmen wir es als große Bereicherung wahr, dass es derzeit so viele tolle Angebote im Internet gibt. Auch zu unserer alten Gemeinde in Potsdam hat sich der Kontakt sehr intensiviert, da wir nun über Zoom in Verbindung treten und regelmäßig an Veranstaltungen teilnehmen können und sogar selbst Angebote für Familie und Freunde machen. Ob es eine Online-Andacht ist, Madithas Workshop zum Gedichte schreiben oder Willis Experimente: Es bringt Menschen zusammen, die sich sonst viel zu selten sehen und sie lernen voneinander und miteinander. Nur unsere Internetgeschwindigkeit bremst uns manchmal aus (lacht)

Haltet ihr euch an einen strikten Tagesplan oder entscheidet ihr jeden Tag aufs Neue, wie euer Tag gestaltet wird?

Toni: Wir sind überhaupt nicht fanatisch. Mit Kindern muss man immer flexibel bleiben. August erinnert uns aber recht zuverlässig daran, wenn wir mit dem Essen zeitlich im Rückstand sind. 

Worauf legt ihr beim Homeschooling wert?

Karo: Wir legen besonderen Wert darauf, dass kein Frust aufkommt. Wir sind allerdings in der wunderbaren Situation, dass unsere Kinder an ihrer Schule lernen, selbständig zu arbeiten. Weiterhin ist uns wichtig, dass die Arbeitsblatt-Zeit nicht zu viel Raum einnimmt. Regelmäßig daran arbeiten ja, aber nicht übertreiben. Wir halten es für genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, dass sie nach ihren eigenen Interessen lernen und forschen, sich ausprobieren, experimentieren. Auch täglich raus in die Natur oder zumindest den Garten. Ideen können nur durch Freiraum entstehen. Es wäre für uns auch völlig in Ordnung gewesen, wenn die Kinder von der Schule keine Aufgaben bekommen hätten. Keine „Schul-Karriere“ wird von diesen fünf Wochen abhängen. 

Die große Angst, die unter Lehrern und Eltern umgeht, den sogenannten „Stoff“ nicht zu schaffen, hat für das „echte“ Lernen dramatische Folgen. Keine Zeit für individuelle Interessen, keine Zeit für Persönlichkeiten, Problemlösung und Meinungsbildung. „Stoff schaffen“ bedeutet immer auch Uniformität und Gleichschritt. Kopf auf, möglichst viel reinstopfen, Kopf zu, zum Test „ausscheiden“, dann wieder vergessen. Echtes Lernen, echte Bildung bedeutet sich aufgrund von Neugierde und mit Freude einer Sache anzunehmen, in sie einzutauchen und möglichst mit allen Sinnen zu durchdringen. Dann haben wir auch ein Leben lang etwas davon.

War es eine große Umstellung für euch und eure Kinder auf einmal zu Hause „Unterricht zu haben“?

Toni: Ja, eigentlich schon. Normalerweise bringen unsere Kinder keine Hausaufgaben mit, weil sie in der Schule alles bewältigen. Das Konzept Hausaufgaben, wie es an den meisten staatlichen Schulen existiert – nämlich die Übungszeit in das Elternhaus zu verlagern – gibt es an der Schule unserer Kinder nicht. 

Gleichzeitig ist es auch jetzt nicht so, dass wir unsere Kinder zu Hause „unterrichten“. Wir sind da, wenn sie Fragen haben – müssen aber nicht die ganze Zeit daneben sitzen. 

Karo: Ich möchte zu diesem Thema auch noch sagen, dass ich Hausaufgaben in höchstem Maße als Förderer sozialer Ungerechtigkeit betrachte. Nicht jedes Kind hat engagierte und interessierte Eltern oder Eltern, die in Jobs arbeiten, die ihnen erlauben, tagsüber Zeit mit ihren Kindern zu verbringen und sie beim Lernen zu unterstützen. Werden diese Aufgaben dann noch benotet, ist die Ungerechtigkeit perfekt. Das passt allerdings gut zu unserem selektiven Schulsystem, das unter Kritikern dafür bekannt ist, soziale Ungerechtigkeit nicht auszugleichen, wie es seine Aufgabe wäre, sondern eher noch zu verschärfen. Und auch in der momentanen Situation gibt es Eltern, die froh sind, wenn sie irgendwie den Tag überstehen. Andere haben momentan so viel Zeit wie nie. Daraus sollten und dürfen keine Nachteile für Schulkinder entstehen.

Und habt ihr Tipps für andere Eltern?

Karo: Ja! Ruhig bleiben. Weiterhin in der Elternrolle bleiben. Die Rollenvermischung mit der Lehreraufgabe führt zu zwischenmenschlichem Stress und Druck zwischen Eltern und Kindern. Deshalb ist Entspannung in dieser Hinsicht wichtig. In der dieser aktuellen Situation gibt es einfach wichtigere Dinge, die Kinder lernen sollten: Rücksichtnahme, Geduld, Verantwortung für die Mitmenschen, Mitgefühl, Bescheidenheit, Zusammenarbeit und vieles mehr. Für Familien bietet sich jetzt die Chance, wieder oder mehr zusammenzuwachsen, einander zuzuhören, die gewonnene Zeit intensiv zu nutzen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass es um Menschenleben geht.

Natürlich – bevor wir jetzt einen Shitstorm ernten – wissen wir, dass wir in einer wirklich guten Lage sind. Wir haben Platz – drinnen und draußen und wir dürfen von zu Hause aus arbeiten. Für Menschen, die derzeit um ihre berufliche Existenz und somit um ihre Zukunft Angst haben müssen, für Menschen, die in bestimmten Berufsgruppen arbeiten, die momentan besonders gefordert sind und für alle Menschen, die in sozial eher instabilen Verhältnissen leben, stellt diese Phase ganz sicher eine enorme psychische und/ oder physische Herausforderung dar. Wir wünschen von ganzem Herzen all diesen Menschen – jung und alt – dass sie, trotz aller Widrigkeiten unversehrt und möglichst gestärkt aus der Situation hervorgehen. 

Fest steht: Kindes- und Elternwohl geht vor Schulaufgaben!

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Was ist euch bei der Erziehung eurer Kinder wichtig? 

Toni: Es ist uns wichtig als Eltern eine Einheit zu bilden und unsere Werte klar zu definieren – uns selbst und den Kindern gegenüber. 

Unsere Ziele sind ziemlich klar: Wir wünschen unseren Kindern, dass sie selbstbewusst sind, Zugang zu ihren Gefühlen haben, die Grenzen anderer respektieren und Träume und Fantasie haben. Weiterhin hoffen wir, dass sie ihre Talente und Fähigkeiten für sich entdecken und ausleben können. Nur wie kommt man am besten dahin? Darüber wurden viele Bücher geschrieben und doch muss jeder seinen persönlichen Weg gehen. Der Weg ist oft steinig, aber wir geben unser Bestes. 

Und was ist für euch das Schönste an einer Großfamilie? 

Man ist nie allein.

Und ganz ehrlich: Was ist manchmal auch das Anstrengendste? 😉

Man ist nie allein ☺.

Liebe Karo, lieber Toni, vielen Dank für eure ehrlichen Worte! 

Auch wir von POLA haben uns Gedanken über diese besondere Zeit gemacht- von daher kommen hier unsere Tipps und 15 Ideen, für die Familienzeit zu Hause!

Fotos: privat

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