Interview: „Ich genieße jeden Moment, den wir als Familie haben“

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Sandra (38) lebt in einem Mädels-Haushalt mit ihren vier Töchtern – Lara (17), Lina (14), Lotta (8) und Linn (2). Ihre Tochter Lotta ist schwer krank und braucht viel Hilfe im Alltag. Woher Sandra die Kraft dafür nimmt, wie ihre Töchter sie dabei unterstützen und welche Rolle Pflanzen dabei spielen, das hat sie uns in einem sehr emotionalen Gespräch auf ihrer Couch verraten.

Liebe Sandra, du lebst in einem 5-Frauen-Haushalt mit deinen Töchtern – wie gut geht das zusammen?

Das klappt bei uns richtig super. Wir harmonieren alle sehr miteinander und sind ein gutes Team. Ich sage immer „Ich und meine Girl-Band“. Klar bin ich auch mal genervt, weil ständig aufgeräumt werden muss und tausend Sachen zu tun sind, aber die Vorteile überwiegen. Meine älteste Tochter Leonie ist ja bereits ausgezogen und ich will noch gar nicht daran denken, wie es wird, wenn Lara mal auszieht. Ich genieße unser Zusammenleben sehr. Wir albern viel herum, ich liebe es, meinen Töchtern kleine Streiche zu spielen.

Familieninterview Sandra und ihre 5 Töchter

Du bist ja sehr früh Mama geworden, mit 18 Jahren, wie war das damals?

Der Vater meiner ältesten Tochter war mein bester Freund und es war schnell klar, dass nicht mehr daraus wird. Ich war also von Anfang an alleine und als Leonie sechs Wochen alt war, habe ich mich neu verliebt und war bald wieder schwanger mit meiner zweiten Tochter. Wir sind dann auch zusammengezogen, aber es hat aus verschiedenen Gründen nicht geklappt. Auch die späteren Beziehungen, aus denen meine anderen Töchter entstanden sind, sind zerbrochen.

Wie ist die Beziehung zwischen deinen Töchtern und ihren Vätern heute?

Eigentlich haben wir nur zum Vater meiner jüngsten Tochter guten Kontakt, das liegt daran, dass das zwischen uns so eine ON/OFF-Geschichte ist. Wir waren zehn Jahre lang gute Kumpels, bis ich gemerkt habe, dass da mehr als Freundschaft ist. Wir lieben uns sehr. Er ist ein ganz fürsorglicher Mann und kümmert sich liebevoll um seine Tochter, aber wir sind einfach krass verschieden, wie Feuer und Wasser. Ich bin ein Freigeist, der gerne tiefgründige Gespräche führt und er kann damit nichts anfangen. Das macht es sehr schwierig.

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Familieninterview Sandra und ihre 5 Töchter

Wäre es denn überhaupt eine Option, dass ein Mann bei euch einzieht?

Nein, dafür sind wir alle zu eingespielt. Unser Alltag ist von A bis Z durchgeplant und da hätte ein Mann keinen Platz. Außerdem würde mich das emotional überfordern. Ich würde mir dann selber Vorwürfe machen, weil ich das Gefühl hätte, allen gerecht werden zu müssen und dafür fehlt einfach die Zeit.

Deine Tochter Lotta ist schwer krank – wann hast du von ihrer Krankheit erfahren?

Lotta kam kerngesund zur Welt und hat sich ganz normal entwickelt. Als sie knapp drei Jahre alt war, ist mir bei einem Ausflug mit dem Tretboot aufgefallen, dass sie die Enten nicht erkennen konnte. Kurz danach war Ostern und sie hatte Probleme, die Ostereier zu finden. Außerdem ist sie im Alltag öfter gestolpert und weniger gerannt – da wusste ich, dass etwas nicht stimmt. Das wollte ich natürlich abchecken lassen, aber von da an begann ein echter Ärztemarathon. Es hat viele Monate gedauert, bis die Ärzte wussten, was Lotta fehlt. 

Zwischendurch gab es die Vermutung, dass es ein Tumor im Kopf sein könnte, aber dann bekam ich einen Brief mit der Diagnose: Spastische Ataxie. Anfangs hatte ich keine Ahnung, was das bedeutet, darum habe ich erstmal gegoogelt, aber das hat nicht viel gebracht. Dann hatten wir einen Termin bei unserer Ärztin zusammen mit einer Psychologin. Und ich erinnere mich genau, es war der 28. Februar 2019, draußen war es düster, regnerisch und kalt. Die Ärztin ratterte viele medizinische Fachbegriffe runter, ich fühlte mich wie in einem Tunnel, die Worte rauschten nur so an mir vorbei. Ich verstand aber, dass es sich um eine Erkrankung des Nervensystems handelt, die nicht heilbar ist und meine Fragen, ob Lotta ihre Arme und Beine irgendwann nicht mehr würde bewegen können, beantwortete sie nur mit einem Nicken und schaute dabei auf den Boden.

In dem Moment bin ich aus dem Zimmer gerannt, habe mich im Bad eingeschlossen und nur noch geschrien und geweint. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, dass das gerade passiert und hoffte, möglichst schnell aus diesem Albtraum aufzuwachen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort im Bad war, als ich wieder rauskam, erklärte mir die Ärztin, dass irgendwann auch Lottas Organe betroffen sein werden und sie daran sterben wird. Sie gaben ihr keine 10 Jahre mehr. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass unser bisheriges Leben plötzlich vorbei war.

Familieninterview Sandra und ihre 5 Töchter

Aber so einfach wolltest du dich mit der Diagnose nicht abfinden und hast eine besondere Therapie für Lotta gefunden – wie kam es dazu?

Nach dem Gespräch mit der Ärztin habe ich ein paar Monate gebraucht, um mit dem Schmerz klarzukommen. Ich begann einen Blog zu schreiben, um meine Gefühle und Gedanken sortieren zu können und meinen Schmerz mit anderen zu teilen. Ich hoffte, so auch andere Familien zu finden, die von der Krankheit betroffen sind. Durch einen Zeitungsartikel überrollte uns eine Welle an Mitgefühl und auch eine Mutter, deren Sohn eine ähnliche Krankheit hatte, schrieb mich an. Sie berichtete mir von einer Klinik in Thailand, die Lottas Krankheit mit einer speziellen Stammzellentherapie behandeln kann. 

Ich war sofort Feuer und Flamme und kontaktierte voller Hoffnung die Klinik. Dank vieler Spenden konnten wir 2019 die insgesamt 40.000 Euro für die Therapie und die Reise zusammenbekommen. Zweimal die Woche wurden Lotta aus Nabelschnurblut gewonnene Stammzellen ins Rückenmark gespritzt. Dazu gab es täglich Physio- und Ergotherapie, Akupunktur, Wassergymnastik, Sauerstoff- und Magnetresonanztherapie. Das funktionierte super, Lotta konnte nach kurzer Zeit sicherer laufen und besser sehen. Für mich war das wie ein kleines Wunder. Die Behandlung kann die Krankheit zwar nicht heilen, aber sie kann die Symptome verbessern und Lotta so wertvolle Lebenszeit schenken. Wir sind so glücklich, dass uns erneut viele liebe Menschen mit ihren Spenden geholfen haben und es im November erneut nach Bangkok gehen kann!

Familieninterview mit fünffach-Mama Sandra Familieninterview Sandra und ihre 5 Töchter

Wie wirkt sich Lottas Krankheit auf euer Familienleben aus?

Zuhause packen alle mit an. Ohne die Hilfe meiner großen Töchter würde es gar nicht funktionieren, weil ich ja alleine bin. Jeder hat seine Aufgaben, wie Essen kochen oder Lotta betreuen, das nimmt mir enorm viel ab. Denn Lotta wird über eine Magensonde ernährt und ich muss ständig wissen, wieviel sie heute schon bekommen hat und welche Vitamine sie noch braucht. In meinem Kopf rattert es ununterbrochen, was alles noch zu tun ist: Essen vorkochen, E-Mails schreiben, Ordner abheften, Fahrdienst bestellen. Mein Kopf ist wie eine riesige Festplatte mit tausenden geöffneten Tabs. Da bin ich für jede Hilfe dankbar.

Ihr seid Anfang des Jahres in eine behindertengerechte Wohnung gezogen – wie schwer war es, die auf dem vollen Potsdamer Immobilienmarkt zu finden?

Sehr schwer! Gleich nach Lottas Diagnose hatten wir angefangen, eine behindertengerechte Wohnung zu suchen. Aber auf dem gesamten Potsdamer Wohnungsmarkt war keine zu finden. Auch beim Wohnungsamt der Stadt haben wir unsere Situation geschildert. Dort hatte man uns versichert, dass wir eine Wohnung bekommen würden, aber wir wurden immer wieder vertröstet. Das zog sich über mehrere Jahre. Irgendwann war ich soweit, dass ich die Hoffnung aufgab und aus Potsdam wegziehen wollte, denn unsere Wohnung im 5. Stock war mit Lottas Situation nicht länger zu vereinbaren. Im letzten Moment bekamen wir Unterstützung von der Kinderhilfe und zwei Wochen später hatten wir eine passende 4-Zimmer-Wohnung gefunden. Das war die Rettung. Jetzt haben wir einen Aufzug, viel Platz und zwei Bäder. Wir fühlen uns hier sehr wohl.

Woher nimmst du die Kraft, euren Alltag mit den vielen Sorgen zu stemmen?

Diese Kraft habe ich nicht immer. Ich war anfangs schwer depressiv und stecke auch heute noch voller Ängste. Das Gefühl der Machtlosigkeit ist einfach immer da. Egal, was ich tue, ständig begleitet mich diese Panik, die ich wie mit einem Deckel runterdrücke. Es ist ein täglicher Kampf, den ich mit mir austrage, denn ich möchte ja auch stark sein für meine Familie. Aber meine Angst begleitet mich rund um die Uhr. Gerade aus diesem Grund weiß ich umso mehr zu schätzen, wie wertvoll unsere gemeinsame Zeit ist. Und mir ist eines klar: Es liegt in meiner Hand, wie ich diese Zeit gestalte. Jeder Tag, den ich mit Tränen verbringe, könnte mit ganz viel Liebe und positiven Erlebnissen gefüllt werden. Wir können lachen, Spaß haben, schwimmen gehen, in den Tierpark fahren. Denn ich weiß, von diesen schönen Erfahrungen werden wir irgendwann zehren müssen, weil wir wissen, was auf uns zukommt.

Apropos schöne Erfahrungen, Urlaube und Auszeiten – ist sowas für euch überhaupt drin?

Einen Urlaub können wir uns finanziell nicht leisten, da ich momentan nicht arbeiten gehen kann. Kurz vor Lottas Diagnose war ich gerade dabei, mich in der Seniorenpflege selbstständig zu machen. Aber arbeiten gehen und mich gleichzeitig um Lotta kümmern, das würde ich mental einfach nicht schaffen. Darum versuchen wir, viele kleine Ausflüge in der Region zu unternehmen.

Familieninterview Sandra und ihre 5 Töchter

Wenn man sich eure Wohnung so anschaut, ist diese ja auch fast ein kleines Urlaubsparadies, es herrscht so ein bisschen Dschungel-Feeling hier und du bezeichnest dich selbst als „pflanzensüchtig“ – wie kommt´s?

Ja, inzwischen sind es über 60 Pflanzen hier in der Wohnung. Ich habe gehört, wenn man im Leben über irgendwas keine Kontrolle hat, dann schafft man sich so seine kleine heile Welt, etwas, das man kontrollieren kann. Und das trifft auf mich total zu. Die Pflanzen zu gießen, mich um sie zu kümmern, lenkt mich ab und macht mir Freude. Eigentlich habe ich zwar keinen grünen Daumen, aber ich lerne ständig Neues dazu.

Und dann kümmert ihr euch noch um zwei tierische Bewohner, die im Kinderzimmer leben. Hamster Elfie und – sehr außergewöhnlich – Blutegel Ursula. Warum ausgerechnet ein Blutegel als Haustier?

(lacht) Darauf sind wir durch Lottas Heilpraktikerin gekommen. Immer, wenn wir bei ihr waren, wollte Lotta unbedingt zu den Blutegeln und irgendwann bekamen wir sie einfach geschenkt. Die sind sehr pflegeleicht, weil sie nur alle 1,5 Jahre fressen müssen. Mittlerweile ist von fünf nur noch einer übrig geblieben. Aber dafür haben wir noch unsere Elfie, das ist auch ganz toll für Lotta. Sie kann ja sehr schlecht sehen, aber Elfie kann sie fühlen und streicheln. Wenn ich könnte, hätte ich am liebsten einen riesigen Bauernhof.

Du hast viele Tattoos, überall an deinem Körper gibt es was zu entdecken – wie viele sind es und welches bedeutet dir am meisten?

Es sind mittlerweile so viele, dass ich sie gar nicht mehr zählen kann. Am meisten bedeutet mir definitiv das Tattoo am Unterarm, es zeigt Lottas Namen als Schriftzug mit einer Taube darüber. Sie ist für mich das Symbol für Frieden, Glück und Zusammenhalt. Und sie steht für all die lieben Menschen, die uns in der ersten schweren Zeit unterstützt haben und geholfen haben, Lottas Therapie zu bezahlen.

Dabei reagieren manche Menschen auch negativ auf dich – wie äußert sich das?

Die Tattoos wirken auf einige Menschen abschreckend und da bekam ich im Rahmen der Spendenaktion viele blöde Kommentare. Aber ich durfte lernen, dass ich es nicht allen recht machen kann und dass das nichts mit mir zu tun hat. Da muss man drüberstehen. Wichtig ist, dass die Menschen in meinem engsten Umfeld wissen, wie ich bin.

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Sind das die Werte, die du auch deinen Töchtern mitgeben möchtest?

Ja, auf jeden Fall. Der Kern ist immer die Familie. Sie ist immer da und steht füreinander ein. Man sollte sich nie davon beeinflussen lassen, was andere Menschen denken, sondern seinen Weg weitergehen und ein guter Mensch sein. Dann kommt auch Gutes zurück, das ist meine Philosophie.

Liebe Sandra, vielen lieben Dank für deine Offenheit und alles Gute für euch!

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