Legasthenie oder Lese-Rechtschreibstörung ist ziemlich bekannt. Aber wusstest du, dass es auch eine angeborene Rechenstörung gibt? Sie heißt Dyskalkulie und rund drei bis sieben Prozent aller Menschen sind davon betroffen. Falls du dich fragst, ob dein Kind dazugehören könnte, lies diesen Artikel. Expertin Annette Höinghaus vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie erklärt, woran man Dyskalkulie erkennt und wie du dein Kind fördern und unterstützen kannst.
Dyskalkulie – wie macht sie sich bemerkbar?
Zwei ist größer als vier, oder?
Anders als bei der Legasthenie, zeigen sich die Symptome einer Rechenstörung oder Dyskalkulie oft bereits im Vorschulalter. Betroffene Kinder haben kein oder nur ein geringes Mengen- und Zahlenverständnis. Einfache Aufforderungen, wie die, Dreier- oder Vierergruppen zu bilden oder bei Gesellschaftsspielen ihre Spielfigur eine bestimmte Zahl an Feldern zu bewegen, stellen sie vor Probleme. Im Grundschulalter haben sie häufig bereits bei einfachen Plus- und Minus-Aufgaben Schwierigkeiten und „rechnen“ noch deutlich länger als Gleichaltrige mit den Fingern.
Aufmerksam solltest du werden, wenn dein Kind:
- im Kindergartenalter Schwierigkeiten hat bei der Zuordnung von Mengen und Verhältnisangaben (mehr, weniger, kleiner, größer),
- Probleme hat beim Abzählen von Gegenständen und der Zuordnung von Mengen zu Zahlen (z.B. Dreier- und Vierergruppen),
- in der Schule wenig oder kein Verständnis für mathematische Logik zeigt: Aufgaben werden nur sehr langsam gelöst, in höheren Klassenstufen oft durch Abzählen, z.B. mit den Fingern,
- Schwierigkeiten mit dem Dezimalsystem hat, zum Beispiel „Zahlendreher“ produziert (dreiundzwanzig – 32) oder Stellenwerte vertauscht (einhundertacht – 1008),
- Rechenarten verwechselt (Addition und Subtraktion),
- Schwierigkeiten hat, das Lesen der Uhr zu erlernen.
Sicherheit mit einem Dyskalkulie-Test
Alle Punkte für sich sind jedoch nur Hinweise. Willst du sicher abklären, ob dein Kind Dyskalkulie hat und eine entsprechende Förderung benötigt, kannst du dies über einen standardisierten Test tun. Der Weg dorthin geht über deine Kinderärztin oder deinen Kinderarzt. Diese überweisen dich an einen Kinder- und Jugendpsychiater oder einen psychologischen Psychotherapeuten in eigener Praxis oder in einem sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Diese führen die Testung durch.
Tatsächlich wird sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie häufig erst auf der weiterführenden Schule oder im Erwachsenenalter diagnostiziert. Durchschnittlich begabten Kindern gelingt es oft, bis in dieses Alter hinein ihre Lese-Rechtschreib- oder Rechenstörung zu kompensieren. Allerdings kostet dies viel Kraft und natürlich erhalten Betroffene so auch keine angemessene Förderung. Also zögere mit der Testung beim Verdacht auf eine Rechenstörung am besten nicht zu lange.
Was sind eigentlich die Ursachen von Legasthenie und Dyskalkulie?
Sowohl Legasthenie als auch Dyskalkulie sind Formen einer neurobiologischen Störung. Dabei sind bestimmte Teile des Gehirns nachweislich verändert. Etwa 20 bis 30 Prozent der Betroffenen sind zeitgleich sowohl von Legasthenie, als auch von Dyskalkulie betroffen. Auch weitere Störungen wie ADS oder ADHS treten in Verbindung mit Legasthenie und Dyskalkulie häufiger auf. Die neurologische Störung ist nach heutigem Kenntnisstand genetisch bedingt und wird zu rund 50 Prozent vererbt. Förderst du dein Kind, kannst du ihm helfen, mit den Symptomen umzugehen. Die Form und Ausprägung die Beeinträchtigung beeinflusst die Förderung jedoch nicht.
Wichtig ist auch: Die neurologische Störung wächst sich nicht aus. „Betroffene können aber lernen, mit ihr zu leben und damit bei entsprechender Förderung und Nutzung von Kompensationsstrategien ein schulisch und beruflich erfolgreiches Leben zu führen“, erklärt Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie.
Wie kannst du dein Kind bei Dyskalkulie unterstützen?
Betroffene Kinder müssen erst einmal ein grundlegendes Mengen- und Zahlverständnis entwickeln, also das Bewusstsein, dass zum Beispiel acht Bälle mehr sind als fünf Bälle oder dass sie den Zahlenstrahl sicher abbilden können. Danach stehen Übungen zu Addition, Subtraktion und den weiteren Grundrechenarten an. Hier bieten entsprechend ausgebildete Lerntherapeutinnen und -therapeuten fachgerechte Unterstützung.
„Bis heute gibt es jedoch keinen staatlich anerkannten Abschluss als Lerntherapeut“, so Annette Höinghaus. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie bietet aus diesem Grund seit 2005 eine Zertifizierung für Weiterbildungsangebote. Auf der Website des Verbandes findest du qualifizierte Therapeuten, die dein Kind in der Schule oder außerhalb fördern können. Die Kosten für die Diagnostik übernimmt die Krankenkasse, die anschließende Therapie müssen Eltern jedoch meist selbst bezahlen. Auf Antrag kann eine Therapie als „Eingliederungsmaßnahme“ vom Jugendamt bezahlt werden, wenn zusätzlich eine seelische Behinderung droht oder bereits eingetreten ist.
Dein Kind hat ein Anrecht auf Notenschutz und Nachteilsausgleich
Als hirnfunktionale Störung gelten sowohl Legasthenie, als auch Dyskalkulie offiziell als Behinderung. Auch wenn der Begriff „Behinderung“ dich vielleicht mit Blick auf dein Kind stört, weil es ansonsten normal intelligent ist, ermöglicht doch erst die offizielle Diagnose einen gezielten Nachteilsausgleich oder Notenschutz in der Schule. So ist bei Legasthenie zum Beispiel das Ausklammern der Rechtschreibleistung aus der Gesamtnotengebung möglich. Zum Teil wird zum Erledigen der Aufgaben auch mehr Zeit gegeben. Das sieht Expertin Höinghaus allerdings kritisch. Viel wichtiger findet sie, Kinder individuell zu fördern und ihnen Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen. Eigentlich logisch: Denn was nützt deinem Kind mehr Zeit, wenn es gar nicht weiß, wie es die gestellten Aufgaben bearbeiten soll!
Unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern
Leider unterscheiden sich die Regelungen zum Notenschutz und Nachteilsausgleich bei Legasthenie und Dyskalkulie von Bundesland zu Bundesland. Teilweise werden ein Nachteilsausgleich und Notenschutz nur in der Grundschule gewährt, teilweise bis zur siebten oder zehnten Klasse. Das beeinträchtigt die schulische Laufbahn der betroffenen Kinder und Jugendlichen oft empfindlich.
Hier müsste eigentlich die Politik aktiv werden. Die Empfehlung der Kultusministerkonferenz zu Legasthenie und Dyskalkulie ist 2007 zuletzt überarbeitet worden und damit nicht mehr auf dem aktuellen Forschungsstand. Außerdem ist in ihr nicht festgehalten, welche Form des Nachteilsausgleichs Jugendliche bis zum Abitur erhalten. Junge Erwachsene haben bis zu diesem Alter zwar gegebenenfalls gelernt, ihre neurologische Störung bis zu einem gewissen Grad zu kompensieren. Verschwunden ist sie jedoch nicht und müsste damit eigentlich auch in diesem Alter noch berücksichtigt werden.
Wo erhalten dein Kind und du Information und Unterstützung?
Auf der Seite des Bundesverbandes Legasthenie und Dyskalkulie (www.bvl-legasthenie.de) erhalten Kinder, Jugendliche und ihre Eltern praktische Hilfe. Du findest dort eine Sammlung an Ratgebern zum Thema sowie ein Verzeichnis zertifizierter Lerntherapeuten und Therapieangebote. Darüber hinaus bietet der Bundesverband regelmäßig Fortbildungen für Lehrkräfte an und engagiert sich in der Öffentlichkeitsarbeit sowie über die Landesverbände, um das Stigma, das viele noch immer mit Legasthenie und Dyskalkulie verbinden, aufzulösen. Betroffene sollen Aufklärung und Unterstützung erhalten. Das ist das erklärte Ziel des Verbandes.
Legasthenie und Dyskalkulie sind als angeborene neurologische Störungen als Behinderung anerkannt und Betroffene haben damit ein Anrecht auf Förderung sowie einen je nach Bundesland unterschiedlichen Nachteilsausgleich und Notenschutz. Mit der entsprechenden Unterstützung kann dein Kind auch mit Dyskalkulie gut durch die Schulzeit kommen. Entscheidend ist die frühe und fachgerechte Diagnostik und dass es die Förderung bekommt, die es braucht. Wir wünschen dir und deinem Kind alles Gute!
Weitere Infos findest du hier:
- Therapeutensuche des Bundesverbands Legasthenie und Dyskalkulie
- Aktuelle Studie zu den Ursachen der Legasthenie (Universität Dresden):
- S3-Leitlinie zur Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Rechtschreibstörung
Noch mehr Elterntipps
In unserer Rubrik „Elternsein & Erziehung“ findest du weitere Ratgebertexte und andere Tipps, zum Beispiel:
- Elternrat: Kinder bei Ängsten begleiten
- Elternrat: Mediennutzung
- „Klar, bleiben wir befreundet!“ Freundschaften pflegen mit Kind – so geht’s!
- Sorgen in der Schule: Lese-Rechtschreib-Schwäche, Dyskalkulie & Co
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