„Das Meißner Porzellan bitte auf den Dachboden“ sagt Elterncoachin Alexandra Fresenborg über die Pubertät

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„Neben der Geburt ist in der gesamten Erziehung keine Zeit so aufregend wie die Pubertät“ erzählte uns Psychologin und Elterncoachin Alexandra Fresenborg in ihrem letzten Interview. Ein Grund für uns, hier für alle Eltern mit jugendlichen Kindern einmal genauer nachzufragen und uns Tipps für die Zeit der Pubertät zu holen!

Das Gehirn ist außer Rand und Band!

Liebe Frau Fresenborg, wann geht es los mit der Pubertät und wann ist sie vorbei?

Fresenborg erziehung kinder interview tipps elterncoachinAlexandra Fresenborg: Früher fand die Pubertät geballt im Alter von 14 bis 17 Jahren statt, das ist heute anders und alles zieht sich über eine viel längere Zeit von ungefähr 8 bis 28 Jahren. Das frühe Einsetzen der Pubertät kommt besonders durch unsere eiweißreiche Ernährung, aber auch durch mehr Sonnenstrahlen, moderaten Sport statt Kinderarbeit und eine Umwelt mit ganz vielen Reizen, die das Gehirn ständig stimuliert. Es fängt ganz schleichend an mit einer Art Ahnung, dass nun etwas anders ist.

Für Eltern ein emotionaler Schleudergang.

Also 20 Jahre Pubertät?!?

Jein. Die Pubertät geschieht nicht am Stück, sondern wellenförmig. Es gibt immer wieder pubertäre Schübe gefolgt von einer Zeit, in der man gut miteinander klarkommt, dann gibt es den nächsten Schub. Für Eltern ist das ein emotionaler Schleudergang – mein Kind mag mich, mein Kind mag mich nicht… Das macht natürlich emotional ganz viel mit uns, denn man weiß nie, welche Phase gerade dran ist.

Eine harte Zeit für Eltern.

Man merkt, dass man immer weniger Einfluss auf das Leben des Kindes hat und das löst bei uns Eltern eine tiefe Verunsicherung aus. Das Kind distanziert sich, die Kinderzimmertüren werden geschlossen, sie gehen mit Freunden weg und sagen nicht wohin und sind für uns irgendwie verschwunden. Man spricht bei diesem Gefühl vom „Empty Nest Syndrom“, also „Leerem Nest Syndrom“, das beschreibt die Trauer und Einsamkeit, wenn die Kinder das Haus verlassen.

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Die Hormone ergießen sich wie aus einem Eimer Wasser.

Was passiert eigentlich mit den Kindern in der Pubertät?

Die Kinder durchlaufen in dieser Zeit ganz viele Entwicklungsaufgaben: Sie müssen sich stark in der Schule fokussieren, haben erste Liebes- und Sexualkontakte, müssen sich über ihren Beruf kümmern, sich selbst finden. Dazu gibt es einen großen hormonellen Schub, als würde man einen Eimer Wasser nehmen und komplett über sich gießen. Damit beginnt das Erwachen der Sexualität, das erschreckt die Kinder. Der Körper spielt völlig verrückt und das ist bedrohlich.

Dieser hormonelle Schub macht auch blind und taub. Es gab dazu wissenschaftliche Untersuchungen – die Kinder können die Mimik des Gegenübers nicht mehr lesen und sehen alles wie durch eine Milchglasscheibe. Man hört dann oft: „Äh was guckst du so?“ Dazu kommt das Längenwachstum der Gliedmaßen, die Koordination stimmt gerade nicht, die Kinder werden tollpatschig und alles fällt runter. Das Meißner Porzellan bitte in der Zeit auf den Dachboden. Auch die Krankenkassen berichten, dass in der Zeit der Pubertät viele Unfälle passieren.

Auch weil Pubertierende das Abenteuer suchen?

Das Gehirn braucht Adrenalinkicks. Wenn das Adrenalin ein paar Mal ausgeschüttet ist, gibt es Ruhe. Daher mein Tipp: Investieren Sie auf dem Rummel in aufregende Fahrgeschäfte, gehen Sie zum Rafting. Und keine Sorge, nur bei einem Prozent der Bevölkerung bleibt dieses „Sensation Seeking“, die permanente Suche nach Extremsituationen.

Was passiert während der Pubertät genau im Gehirn der Kinder?

Das Gehirn ist außer Rand und Band. In der Pubertät vollzieht sich eine massive Gehirnentwicklung. Es ist wie ein 2.500 Teile-Puzzle, das in sämtliche Einzelteile zerfällt und dann neu aufgebaut wird, aber in 50 Teilen. Dadurch wird die Denkleistung schneller, effektiver und komplexere Sachverhalte können erfasst werden.

Zum einen im Stammhirn, darin befinden sich unsere Grundreflexe bei Gefahr: tot stellen, Flucht oder Angriff. Deshalb wird in der Zeit auch ganz viel geprügelt. Dann im Mittelhirn, dem emotionalen Zentrum. Das letzte Puzzleteil wird im präfrontalen Kortex eingefügt: Hier befinden sich Einfühlungsvermögen und die Einschätzung von Risiko und der Konsequenzen des eigenen Handelns, was leider ganz zuletzt wieder funktioniert. Es gibt daher auch keine Empathie mit den Eltern, uns wird viel um die Ohren geschleudert und man kann weinen vor den Kindern, sie werden es nicht sehen. Das Zusammensetzen des Puzzles passiert leider nicht über Nacht, sondern inselweise, deshalb gibt es immer Lücken.

Es ist wie Kinder-Alzheimer.

Wirken Pubertierende deshalb oft so zerstreut?

Ja, es ist wie Kinder-Alzheimer, sie vergessen alles. Früher kaufte man den Kindern neue Sachen, weil sie rauswachsen sind. In der Pubertät, weil sie alles verlieren. Die Antwort: „Keine Ahnung“ werden sie ständig hören. Das wirft auch die Kinder in eine Verzweiflung, weil sie selbst merken, dass sie sich an Dinge nicht erinnern können. Übertragen Sie Ihren Kindern maximal drei kleine und überschaubare Aufgaben auf einmal und haben Sie einen langen Atem, denn die Kinder entscheiden nun selbst, wann sie was machen wollen.

Gibt es einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen?

Jungen sind im Grundschulalter Grobmotoriker und werden dann Feinmotoriker, das heißt, sie entdecken die Tastatur. Bei den Mädchen ist es umgekehrt, die sind dann unterwegs und da hat man als Eltern richtig Bammel.

Die Kinder sind auf der Suche nach ihrem eigenen Ich.

Wieso fühlt man sich als Eltern von Pubertierenden so oft provoziert?

Die starke Bindung zum Kind löst sich an der Stelle auf. Die Kinder wenden sich von uns Eltern ab und wenden sich zu Gleichaltrigen. Dabei werden unsere Werte komplett in Frage gestellt, das greift unsere Grundhaltung an und es wird emotional. Ist Ihnen Pünktlichkeit wichtig, wird das Kind unpünktlich. Legen Sie Wert auf Sauberkeit und Ordnung, wird das Zimmer im Chaos versinken. Ich habe einen Fall erlebt, da hat sich die Tochter drei Wochen lang nicht gewaschen. Da heißt es: Ruhig bleiben, mit spätestens 28 haben die Kinder wieder ihre Werte. Die Kinder sind auf der Suche nach ihrem eigenen Ich – wer bin ich, wohin will ich mich orientieren. Das ist ein großer Punkt des Zweifelns und des Rückzugs.

Welche Auswirkungen hatte hier die Corona-Situation mit Lockdown, Distanzunterricht und Schließung vieler Freizeitorte?

Wie erwähnt ist ein wichtiger Entwicklungsbaustein in dieser Zeit die Ablösung vom Elternhaus und die Hinwendung zu Gleichaltrigen. Diese Möglichkeit ist den heutigen Jugendlichen komplett verwehrt. Deshalb könnte ich mir vorstellen, dass es viele Auseinandersetzungen in den Familien gab, weil der Ablösungsprozess aufgrund der gegebenen Rahmenbedingungen nicht gelingt.

Als Ausweg beobachtet man zum Beispiel, dass die Jugendlichen in einen erhöhten Medienkonsum fliehen und die sogenannten Influencer an Einfluss gewinnen. Leider kann keiner eine verlässliche Prognose für die weitere Entwicklung von Kindern und Jugendlichen abgeben, weil wir in der gesamten Menschheitsgeschichte keinen solchen Ausnahmezustand hatten. Dennoch glaube ich fest daran, dass die Familien diese schwierige Zeit gemeinsam schaffen und trotzdem in eine positive Zukunft gehen.

Das hoffen wir auch! Gibt es eigentlich Unterschiede in der Rolle von Vätern und Müttern in der Pubertät?

Die Väter spielen in der Zeit eine wahnsinnig wichtige Rolle und sowohl Vater als auch Mutter müssen diese Staffelübergabe ganz klar annehmen. Für die Jungs werden die Väter das Vorbild von Männlichkeit, was macht einen Mann als Mann aus? Der Vater muss wissen, dass er diese Aufgabe hat und auch Vorbild sein im Umgang mit dem anderen Geschlecht.

Für die Mädchen sind die Väter wichtig für die Entwicklung der Weiblichkeit. Als Mutter eines pubertierenden Jungen sind sie komplett raus, als Mutter eines Mädchens werden Sie von den Mädchen demontiert. Es bleibt kein gutes Haar an uns, leider nicht. Die Mädchen finden so ihre Position in Familie und Gesellschaft.

Puh, das klingt hart für uns Mütter!

Ja, Sie müssen sich immer wieder sagen: „Ich bin nicht gemeint, das habe ich nicht gehört, darauf springe ich jetzt nicht an.“ Toll wäre jetzt eine Selbsthilfegruppe für Mütter, in der eine immer in der Mitte steht und die anderen nur sagen: „Du machst das prima!“ Das geht an die Substanz, nie in seinem Leben wird man so hart angefahren. Die Kinder machen das im Hormonschub, hinterher tut es ihnen unendlich leid. Sie weinen und wissen nicht, warum sie das gesagt haben.

Die Kinder wollen uns nicht als ihre besten Freunde.

Wie kommuniziert man in der Zeit am besten mit den Kindern?

Die Kinder wollen uns nicht als ihre besten Freunde. Wir müssen als Eltern auch in der Pubertät im Erziehungslevel bleiben, Grenzen setzen und Feedback geben, was nicht gut läuft. Gespräche werden immer wichtiger, nur den Zeitpunkt und die Länge bestimmen jetzt die Kinder. Wenn das Kind gerade genervt ist, kann man eine Unterhaltung vergessen. Man muss hier defensiver werden. Bieten Sie immer Gesprächsbereitschaft und Problemlösebereitschaft an wie auf einem Buffet, aber warten Sie, dass Ihr Kind in seinem Tempo auf Sie zukommt.

Und während man früher eher im Fürsorge-Kontext kommuniziert hat, muss ab dem 10. Lebensjahr ein kommunikativer Wechsel stattfinden. Statt: „Hast du das gemacht? Hast du an alles gedacht und alles eingepackt?“ Hin zu „Wie hast du die Situation gemeistert? Bist du glücklich?“. Man muss spätestens jetzt den Kindern Strategien beibringen, wie man Dinge nicht vergisst und Aufgaben meistert. Den richtigen Zeitpunkt merkt man am Satz: „Mama, du nervst!“ Ab dann nicht mehr überwachen, sondern so sprechen wie mit einer gleichaltrigen Freundin oder einem Freund. Und wenn sie Dinge vergessen, auf die Zunge beißen und die Kinder die Situation meistern lassen.

Man muss lernen, loszulassen.

Haben Sie weitere konkrete Tipps für die Eltern von Pubertierenden?

Man erkennt sein Kind oft nicht mehr, aber man muss ihm immer und immer wieder sagen: „Ich hab dich lieb!“ Jungen werden teilweise richtige Machos: Sie können alles, wissen alles, schaffen alles. Aber von der visuellen Optik darf man sich nicht täuschen lassen, im Innersten sind zart wie Libellenflügel. Bleiben Sie Ihren Kindern gegenüber positiv, zugewandt, liebevoll und fürsorgend, obwohl Ihnen so ein rauer Wind entgegengeschleudert wird und das Kind außer Rand und Band ist.

Es ist auch sehr hilfreich, vorher eine Art Mentor zu installieren, bei mir war es meine beste Freundin. Eine Person, die die Kinder mögen, die in der Familie immer mal wieder zu Gast sind und mit den Kindern etwas unternimmt. Wenn die Kinder nicht auf mich gehört haben, habe ich meine Freundin angerufen. Die hat dann das Gleiche gesagt und was von mir abgelehnt wurde, wurde bei ihr angenommen.

Das Wichtigste ist zu lernen, loszulassen. Ich sage das so locker, aber loslassen ist so schwer. Die eigene Sinnhaftigkeit ist damit weg. Bisher hat man sein Leben für die Kinder mitgedacht und das fällt nun weg. Als Eltern muss man sich einen Plan machen, wie man diese Lücke füllt und die Aktivitäten wieder aufgreifen, die man vor den Kindern gern gemacht hat, sich wieder auf andere Themen fokussieren: die Paarbeziehung, Hobbys, die Karriere. Wir werden auf uns selbst zurückgeworfen, darin liegt aber die Chance sein eigenes Leben, zusammen mit dem Partner, noch einmal neu zu definieren und das macht wirklich Spaß. Das hilft auch, die massive Ablehnung der Kinder gut zu überstehen.

Liebe Frau Fresenborg, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Titelfoto:  / Foto A. Fresenborg: privat

“Die Zeit mit unseren Kindern ist vergänglich!” sagt Elterncoachin Alexandra Fresenborg

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