“Ich wusste nicht, wie viel man als Mutter schaffen muss, um der Mutterrolle gerecht zu werden.” – Interview mit Linda Biallas

Linda Biallas Mutterschaft Buch Buchtipp Feminismus

Ich hatte schon seit einiger Zeit kein Buch mehr in der Hand, welches mich so wütend, ungerecht behandelt und herabgesetzt fühlen lies. Aber diese Gefühle bezogen sich nicht ausschließlich auf mich und mein Leben, sondern ich fühlte sie im Sinne aller Frauen und Mütter, da ich selbst eine Frau und Mutter war. Und klar, hatte ich mich schon mit den Begriffen „Mental Load“, „Altersarmut“, „Gender-Pay-Gap“ etc. beschäftigt, aber wie groß die Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen und Müttern heutzutage noch immer ist, macht mich fassungslos. In Linda Biallas Buch “Mutter, schafft. Die Rolle der Mutter im Kapitalismus und Patriarchat: ein Aufruf zur Revolution”geht es darum, welche Kämpfe Mütter heutzutage immer noch austragen müssen und wie sie auch weiterhin im Stich gelassen werden. Im Gespräch hat mir Linda verraten, was es bedeutet, eine “gute Mutter” zu sein, welche Erfahrungen sie als junge Mutter und Alleinerziehende gemacht hat und was wir Frauen anders machen müssen.

Liebe Linda, in deinem Buch berichtest du davon, dass die Mutter von der Gesellschaft als verantwortliche Person dafür gesehen wird, dass durch genug Mutterliebe und Selbstaufgabe aus den Kindern „gute Menschen“ werden. Das kann doch nicht ihr ernst sein?

Die Gesellschaft hat Erwartungen an Mütter, die auf veralteten Stereotypen und Rollenbildern basieren. Eine solche Erwartung ist, dass Mütter für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich sind und durch genug Mutterliebe und Selbstaufopferung aus ihnen „gute Menschen“ machen können. Das Spannende an dieser Sache ist, dass diese Ideologie von Mutterschaft dazu führt, dass trotz aller Kritikpunkte die Mutter als sich aufopfernde Alleinverantwortliche auf eine Art gesellschaftliche Normalität bleibt, die bedeutet, dass diese Rolle eben unhinterfragt bleibt, und als „natürlich“ gilt, obwohl inhaltlich einiges dafür spricht, Erziehung und das Aufwachsen von Kindern als eine gemeinschaftliche Aufgabe von Eltern, Familien und der Gesellschaft insgesamt aufzufassen.

Durch deine erste Schwangerschaft hat sich dein Blick auf die Notwendigkeit von Feminismus sehr fokussiert. Die Missstände, die in unserer Gesellschaft für Mütter allgegenwärtig sind, haben sich auch dir durch das Mamasein offenbart. Welche Erfahrungen hast du als junge Mutter und Alleinerziehende gemacht?

Für mich war insbesondere erschreckend, wie „normal“ es ist, alleinerziehende Mutter zu werden. Das Paare sich trennen, gehört zum Leben dazu, genauso wie die Tatsache, dass Menschen auch ohne Paarbeziehung Kinder bekommen. Dass aber fast 9 von 10 Alleinerziehenden Frauen sind, sagt schon etwas darüber aus, wer in unserer Gesellschaft für Kinder zuständig ist, und wer nicht. Gleichzeitig ist diese Gesellschaft in vielerlei Hinsicht auf das Leben mit Kindern in der bürgerlichen Kleinfamilie ausgerichtet, von den Vorstellungen die wir über „Familie“ haben, bis zu den konkreten Verhältnissen, wenn man zum Beispiel an das Ehegattensplitting denkt. Alleinerziehende werden häufig als irgendwie defizitär wahrgenommen, obwohl sie das an sich natürlich nicht sind, sondern häufig das Drumherum fehlt, also die Unterstützung, die Rahmenbedingungen, der Kitaplatz mit den passenden Öffnungszeiten für Alleinverdienerinnen, die anderen Erwachsenen, die Care-Arbeit machen. Übergreifend könnte man sagen, dass Alleinerziehende Mütter viel zu häufig völlig egal sind, sowohl wenn es darum geht, wie die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gestaltet sind, als auch, wenn es darum geht, wer für wen im Alltag da ist.

Wie sehr unterschied sich deine Vorstellung von Mutterschaft mit der Realität?

Ich wusste nicht, wie viel man als Mutter schaffen muss, um der Mutterrolle gerecht zu werden. Und wie viel davon letztendlich gar nicht so eng mit dem Kindeswohl in Verbindung steht, sondern einen starken Symbolcharakter hat, der zeigt, dass man „als Mutter alles richtig macht“. Außerdem habe ich erwartet, dass paritätische Elternschaft viel stärker gesellschaftlich verankert sei. Dem war aber leider nicht so. Es ist nicht üblich, gleichzeitig Mutter und finanziell unabhängig und Frau mit eigenen Interessen zu sein. Mutterschaft bedeutet in Deutschland Ehe, klassische Rollenverteilung, beruflich vorher etwas erreicht haben, weil das als Frau mit Kind nicht mehr geht. Die deutsche, bzw. westdeutsche Idee von Mutterschaft bezieht sich stark darauf, für das Kind etwas aufgeben zu müssen: Autonomie, eigene Interessen, Freizeit.

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In unserer Gesellschaft bedeutet Kinderbekommen für Mütter, dass sich das ganze Leben verändert. Teilzeit oder Aufgabe der Lohnarbeit, finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann, alleinige oder hauptverantwortliche Zuständigkeit für Care-Arbeit und Familie, eingebettet in eine Ideologie von Mutterschaft. Was können und müssen wir als Frauen anders machen?

Das finde ich eine spannende Frage, weil ja Mütter natürlich nicht verantwortlich für diese Schieflagen sind, aber uns in der Praxis trotzdem wenig anderes übrigbleibt, als eben zu schauen, wie wir uns möglichst gut emanzipieren, also ein selbstbestimmtes Leben verwirklichen können. Hier bewegt man sich in einem Spannungsfeld zwischen „man muss nur hart arbeiten, dann wird man erfolgreich“ und „die Rahmenbedingungen sind für Mütter so schlecht, dass ich nicht anders kann, als mich zu fügen“, was natürlich beides nicht stimmt. Was man auf jeden Fall versuchen kann: die eigene Sozialisation und die eigenen ideologischen Vorstellungen kritisch hinterfragen, auch im Hinblick auf Themen wie Zuständigkeit in der Familie, Vorstellungen von der Mutterrolle und Augenhöhe in der Beziehung. Man kann in der Praxis in der eigenen Familie Sachen anders machen, auch im Kleinen, wobei wir als Gesellschaft hier sowohl unterschiedlichen Modellen in der Familie gerecht werden müssen, als auch in Bezug auf das große Ganze die damit zusammenhängende materielle Versorgung aller Gesellschaftsmitglieder perspektivisch an eben deren Bedürfnissen bzw. Bedarfen ausrichten sollten. Es ist hier dann wichtig zu betonen, dass die Veränderung der Bedingungen für Frauen und Mütter und die Schaffung einer gleichberechtigten Gesellschaft eine gemeinsame Aufgabe für Frauen und Männer, Familien, unterschiedliche Gruppen und Communities und die Gesellschaft insgesamt ist.

Und was bedeutet es, eine „gute Mutter“ zu sein?

Die Vorstellungen davon, was eine „gute Mutter“ ausmacht, sind in unserer Gesellschaft oft stark geprägt von traditionellen Rollenbildern und Erwartungen. Eine „gute Mutter“ wird oft als liebevoll, fürsorglich, opferbereit und hingebungsvoll angesehen und mit einer perfekten Organisation des Familienlebens und der Kindererziehung assoziiert. Das ist die Art der Mutterrolle, die den eigenen Bedürfnissen der Mutter, die ja auch noch etwas anderes ist als Mutter, dann nicht gerecht wird. Natürlich ist es für das Aufwachsen von Kindern wichtig, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und das Heranwachsen liebevoll zu begleiten. Das heißt aber weder, dass sich eine Mutter dafür selbst vernachlässigen muss, noch, dass nur sie dafür zuständig ist. Auch Väter, Großeltern, Patentanten, Freundinnen, Freunde, und auf ihre Art auch pädagogische Fachkräfte können und sollten, wenn man so will, „gute Mütter“ sein.

Kannst du uns kurz zusammenfassen, warum sich die Situation für Frauen und Mütter durch die Wiedervereinigung verschlechtert hat?

Nach der Wiedervereinigung wurden Kinderbetreuungsmöglichkeiten, Kitas und andere soziale Einrichtungen, die ihren Teil zur, im Vergleich zur BRD besser gelungenen Vereinbarkeit und zur Frauenemanzipation beigetragen hatten, abgebaut. Frauen, die im Vergleich zu Männern häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen waren, wurden auf dem Arbeitsamt plötzlich gefragt, warum sie denn überhaupt arbeiten wollten, sie hätten doch Kinder? Besonders drastisch finde ich die Tatsache, dass es mit der Wiedervereinigung in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch die Möglichkeit der Fristenlösung ohne Zwangsberatung nicht mehr gab. Und letztendlich Schwangerschaftsabbrüche auch im wiedervereinigten Deutschland in 2023 noch illegal sind.

Dazu muss man auch sagen, dass wenn wir über die Lage von Familien und Müttern sprechen, häufig die Zustände in der westdeutschen Mittelschicht besprochen werden, die aber nicht stellvertretend für alle anderen stehen. Auch heutzutage sind beispielsweise die Zahlen für Frauen in Ostdeutschland besser, als in den Ländern der alten Bundesrepublik. Der Gender-Pay-Gap ist geringer, Männer machen mehr Carearbeit, haben eine höhere Beteiligung an der Elternzeit etc.

 

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Du schreibst „Je größer der Gehaltsunterschied zwischen Vater und Mutter (Frauen haben im Jahr 2020 18 % weniger verdient als Männer), desto größer der Druck, dass diejenige mit weniger Gehalt in Elternzeit geht oder auch nach der Elternzeit für Kinder und Haushalt zuständig ist. Bei einem größeren Gehaltsunterschied zwischen Vater und Mutter steht für die Familie insgesamt mehr Geld zur Verfügung, wenn die weniger verdienende Frau in Elternzeit geht.“ Ergo: Die Mutter geht in die Elternzeit und arbeitet auch im Anschluss nur in Teilzeit, um sich um die Care-Arbeit kümmern zu können. Das Ergebnis: Frauen beziehen ein um 59,6 Prozent geringeres eigenes Alterssicherungseinkommen als Männer. Was läuft hier eigentlich alles falsch?

Die Gründe dafür liegen sicherlich an den Ungleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, der starken Verankerung von traditionellen Rollenbildern, unzureichender Möglichkeiten der Kinderbetreuung, aber auch an finanziellen Anreizen für ein Frauen benachteiligendes konservatives Familienmodell. Auf einer größeren Ebene gedacht besteht hier aber auch ein ganz klarer Zusammenhang zu einem Wirtschaftssystem, das Teilhabe an Ressourcen von Leistung abhängig macht, und für Menschen, die nicht im kapitalistischen Sinne Leisten, keine ausreichende Versorgung vorsieht.

Ist bezahlte Care-Arbeit die Lösung? Oder bräuchten wir für alle Ungerechtigkeiten größere Veränderungen?

Wenn bezahlte Care-Arbeit zu einer besseren Versorgung von Müttern und Kindern führt, ist das natürlich auch positiv zu bewerten. Was bezahlte Care-Arbeit aber nicht zu leisten vermag ist, das ungleiche Geschlechterverhältnis zu verändern. Mich persönlich stimmt es auch wenig optimistisch, wenn wir von vornherein in erster Linie über bezahlte Care-Arbeit für Mütter reden. Väter sind dann weiterhin ausgenommen, oder gehen „normal arbeiten“. Gerade in eher konservativ ausgerichteten Gesellschaften sehe ich bei bezahlter Care-Arbeit durchaus auch die Gefahr, dass ein traditionelles Rollenbild, bei dem Frauen untergeordnet sind, sich durch die Festschreibung von Müttern in der Familie weiter fortsetzt. Bezahlte Care-Arbeit ohne weitere Maßnahmen kann sich also relativ mühelos auch innerhalb eines patriarchalen Systems einfügen. Auch weitere Ausbeutungsverhältnisse und Verteilungsungerechtigkeiten, die das kapitalistische Wirtschaftssystem verursacht, werden durch bezahlte Care-Arbeit nicht berührt.

Du schreibst am Ende, dass wir Klassenbewusstsein und konkret veränderte Verhältnisse brauchen. Was forderst du noch?

Eine Gesellschaft, in der gilt: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, wie es zum Beispiel Marx genannt hat. Also eine Gesellschaft, die von ihren Mitgliedern gemeinschaftlich gestaltet wird, die Versorgung dieser Gesellschaftsmitglieder, an ihren Bedarfen orientiert, ohne dass Lohnarbeit Ausbeutung bedeutet, gerechte Verteilung von Ressourcen, ein Ende der gewinnorientierten Verteilungsgrundsätze des Kapitalismus, deren negative Auswirkungen wir trotz aller „vom Tellerwäscher zum Millionär-Rhetorik“ wir überall sehen können, von bei von Armut Betroffenen im Niedriglohnsektor bis zum nicht im Sinne der Patientinnen und Patienten funktionierenden Gesundheitswesen. Ich will nicht nur eine Gesellschaftsform, in der Väter ihre Hälfte der Care-Arbeit machen, sodass Mütter echte Wahlfreiheit haben, sondern auch eine, die außerdem von Solidarität und Kooperation und nicht von Leistung geprägt ist und Zeit und Raum nicht nur für eine faire Verteilung von Beruf und Familie lässt, sondern auch für persönliche Interessen, zwischenmenschliche Erfahrungen, Bildung um der Bildung willen, gesellschaftliches Engagement und miteinander Leben, und das Einfach-mal-nichts-Tun. Ich will die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschafts- bzw. Wirtschaftsform mit ihrer durch ein patriarchales, hierarchisches Geschlechterverhältnis legitimierten geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, in dessen Kontext sich die Unterdrückung von Frauen immer wieder manifestiert.

Und was möchtest du denjenigen sagen, die behaupten, dass das Patriarchat trotz allem das beste aller Systeme sei?

Es ist ja ein häufiges Phänomen, dass einem das Patriarchat und der Kapitalismus als so „normal“ vorkommen, dass sie als gar nicht weiter besprechenswert gelten. Während die Existenz des Patriarchats häufig geleugnet wird, à la „Frauen können doch heute alles erreichen“ und die Zahlen, nicht nur zu Mutterschaft und der schlechten wirtschaftlichen Lage von Frauen, sondern auch zu sexueller Gewalt, Femiziden, zu Ehrgewalt, Zwangsheirat, Prostitution, die die deutliche Sprache sprechen, dass dem eben nicht so ist, einfach ausgeblendet werden, wird in Bezug auf den Kapitalismus häufig behauptet, alle anderen Systeme seien schlechter als dieser. Aber dass man in der westeuropäischen Mittelschicht nicht die ausgeprägtesten Auswüchse kapitalistischer Ausbeutung und Unterdrückung am eigenen Leib erfährt, bedeutet ja nicht, dass diese nicht da sind. Auch hier gibt es genug Argumente, die aufzeigen, wie kritikwürdig der Kapitalismus ist, und wie er einer befreiten Gesellschaft entgegensteht.
Und insgesamt denke ich, auch explizit als Mutter von zwei Kindern: Es wäre schon eine gute Sache, wenn wir was gegen die vom „besten System“ verursachte Kimakrise machen könnten.

Ganz lieben Dank für das spannende Gespräch!

Foto: Mike Auerbach 

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