Wie ist es wohl, ein Kind zu sein? – Bestimmt stellt man sich diese Frage als Elternteil zu selten. An die eigene Erfahrung kann man sich meist nur noch wenig erinnern. Umso verwirrender ist es, wenn man nach jahrelanger Adoleszenz und geübter Ratio plötzlich mit infantiler Denkweise konfrontiert wird. Man hat Fragen. Deswegen erfreuen sich Elternratgeber größter Beliebtheit. Man will seine Kinder irgendwie kapieren. Dabei hilft vor allem die Einsicht, dass das kindliche Gehirn anders funktioniert als das eines Erwachsenen. Sie bocken, schreien und eskalieren nicht mit böser Absicht, ihre Einsichten sind schlicht andere als die ihrer Eltern. Sich in die Gedanken und Gefühle seines Kindes hineinzuversetzen, entschärft den Konflikt und lenkt die Aufmerksamkeit auf ihre emotionale Not oder Hilflosigkeit. Ein Kind zu sein, heißt vor allem, sehr wenig selbst bestimmen zu dürfen.
Und das ist kein Pappenstiel, denn die Idee der Selbstbestimmung ist ein Grundgedanke der Menschenrechte. Ich werde schon sauer, wenn mir jemand sagt, ich solle in der Kirche nicht fluchen. Ich hasse jede Bevormundung. Eltern aber nerven Kinder ständig mit ihren Zurechtweisungen, Regeln und Verboten. Ob Schlafenszeit, Sturzhelm oder Gemüse-Zwang beim Essen – immer wollen die Erwachsenen anders als der Nachwuchs. Ähnlich unfrei sind nur Knackis, die dürfen aber wenigstens fernsehen, solange sie wollen. Die kindliche Freiheit ist klein, der Frust daher oft groß. Natürlich haben Eltern nur das Beste im Sinn, nämlich die Sicherheit und die optimale Entwicklung ihrer Schützlinge. Trotz verständnisvollen Einfühlungsvermögens kann der Erziehungsauftrag ja nicht einfach ausgesetzt werden.
Blinde Wut
Also geht´s schon morgens los mit dem Stress, z.B. beim Kampf Sonnencreme gegen Kindergesicht. Egal, wie einfühlsam man bittet, das Eincremen endet mit zeterndem Handgemenge als hätte man versucht, Graf Dracula mit Knoblauchbutter einzuschmieren. Zum Dank kriegt man dann noch eine wütende Kinderfaust in den Bauch und wird mit einem gehässigen „Kacka-Mama“ in den Tag entlassen. Auf Einsicht braucht man nun wirklich nicht zu hoffen, denn ihre Empathie muss sich erst noch entwickeln. Solange nehmen Vorschulkinder jede Zuwiderhandlung gegen ihren Willen persönlich. Logisch, dass mein Sohn stinksauer wird, wenn ich aus Versehen eines seiner fragilen Lego-Gebilde umstoße.
Ihn interessieren nur die Folgen, ob geplant oder ungeplant ist nicht von Belang. Erst, wenn er zur Perspektivübernahme fähig ist, kann er Handlungen auch hinsichtlich ihrer Absichten bewerten. Bis dahin muss ich einfach ganz tief in den Bauch atmen, wenn ich mir trotz edelster Gesinnung wieder seinen Zorn verdient habe, weil ich die Sandalen im Winter nicht erlaube. Seine kognitiven Fähigkeiten reichen noch nicht aus, um sich die kalten Füße vorzustellen, die er in den Sommerschühchen bekommt. Das heißt, ich muss ihm bei der Einsicht helfen, sodass er den Sinn meines Verbots erkennen kann.
Ich bemühe mich daher, die Gründe für meine Entscheidungen zu erklären, denn nichts ist schlimmer als Willkür, die dir schon morgens in die Parade fährt. Sauer ist er trotzdem, also muss ich wieder meine Empathie bemühen, denn beim Gefühlsmanagement haben Eltern eine Vorbildfunktion. Und mir ist sehr daran gelegen, dass mein Sohn einen guten Umgang mit seinen Gefühlen lernt. Es fängt bereits damit an, die Gefühle korrekt zu benennen. Sonst geht es ihm eines Tages so wie mir, als ich von meiner Therapeutin gefragt wurde: „Wie haben Sie sich in dieser Situation gefühlt?“ und ich ehrlich zur Antwort gab: „Weiß nicht, was gibt´s denn so?“ Damals war ich längst erwachsen und habe mein Gefühlsleben wegen Überforderung in großen Teilen unterdrückt und ignoriert. Heute weiß ich besser Bescheid, denn: Nur wer seine Gefühle kennt, kann auch mit ihnen umgehen.
Zuhause ist Platz für die Stinkwut
Die Familie ist der sichere Raum, um erstmal alles rauszulassen. Wütend zu sein ist ein legitimes Gefühl, aber deswegen die sonnengeschützte Kinderfaust in der Magengrube der Mutter zu versenken, ist nicht in Ordnung. Ich muss ihm dabei helfen, Emotionen so zu regulieren, dass niemand Schaden nimmt. Von der Wucht eines Wutanfalls ist der Junge meist selbst völlig übermannt. Am Ende sinkt er kraftlos in meine Arme, ist völlig aufgelöst und vor allem froh, dass ich ihn tröste. Dann erkenne ich, wie aufreibend es ist, sich klein und hilflos zu fühlen, weil die Welt oft so wenig Sinn ergibt. Ich will ihm helfen, die Wut zu kultivieren, sodass er sie zwar rauslassen kann, aber sie nicht zerstörerisch wird. Für ein selbstbestimmtes Leben brauchen Kinder auch die Fähigkeit, sich aufzulehnen und gegen Widerstände anzugehen.
Wut ist die Antwort auf Hilflosigkeit, Ablehnung, unerfüllte Bedürfnisse oder empfundene Ungerechtigkeit. Sie ist eine treibende Kraft, denn sie hilft, für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, Grenzen zu wahren und sich durchzusetzen. Wer wütend sein darf, kann sich selbst weiterentwickeln, anderen helfen und sich wehren. Beruhigen kann man sich ja dann immer noch.
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