Eva Lindner ist Mutter von insgesamt drei Kindern, eines davon ein „Sternenkind“. Sie hat ihr zweites Kind durch eine Fehlgeburt in der 16. Schwangerschaftswoche verloren. Ihren Verlust hat sie mit einem Buch verarbeitet. Mit uns spricht sie darüber, was ihr und ihrer Familie in der schwierigen Situation geholfen hat und was betroffene Frauen wirklich brauchen.
POLA Magazin: Eva, wann ist deine Fehlgeburt passiert und wie ist das Ganze abgelaufen?
Eva Lindner: Ich war schwanger mit unserem zweiten Kind, bereits in der 16. Woche. Die Schwangerschaft verlief bis dahin völlig unauffällig, wir hatten uns abends noch mit Freunden getroffen, lagen schon im Bett. Da ist wie aus dem Nichts die Fruchtblase geplatzt und ich bekam Wehen. Letztlich habe ich, allein mit meinem Mann, in unserem Badezimmer unser Kind auf die Welt gebracht. Unsere ältere Tochter schlief im Nebenzimmer. Es war ein Gefühl echten Kontrollverlusts – eben eine Geburt, bloß, dass mich davor nichts darauf vorbereitet hatte. Für mich und auch für mein Mann war das ein Schock.
Ich rief dann meine Hebamme an, die ich noch von der Schwangerschaft meiner großen Tochter her kannte, und wir wurden schließlich mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht. Dort musste noch eine Ausschabung vorgenommen werden. Das Klinikpersonal war routiniert, aber wenig einfühlsam. So sagte zum Beispiel eine Pflegerin zu mir sinngemäß „Kopf hoch, beim nächsten Mal klappt es bestimmt!“ Überhaupt hatte ich nicht das Gefühl, in meinem Schmerz und meiner Trauer ernst genommen zu werden.
Was hat dir in dieser schwierigen Situation geholfen?
Der erste Mensch, der uns zuhörte, war der Klinikseelsorger. Er nahm sich wirklich Zeit für uns und hörte sich unsere Fragen in Ruhe an. So wussten wir zum Beispiel nicht, was wir unserer damals dreijährigen Tochter sagen sollten. Sie hatte sich schon sehr auf ihr Geschwisterchen gefreut. Im Rahmen dieses Gesprächs hörte ich zum ersten Mal den Begriff „Sternenkind“. Der Seelsorger half uns, Worte für das zu finden, was für uns unaussprechlich war. Einige Monate später fand außerdem eine Sammelbestattung für Sternenkinder statt, die wir aktiv mitgestalten konnten. So bemalten wir zum Beispiel den Sarg und überlegten uns Lieder, die für unser Kind gespielt werden sollten. Dieses Ritual und auch der Austausch mit anderen betroffenen Eltern haben mir geholfen, das Erlebte zu verarbeiten.
Du hast außerdem ein Buch über deine Erfahrungen geschrieben („Mutter ohne Kind“*). Darin bezeichnest du Fehlgeburten als Tabu. Warum?
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Als Gesellschaft sind wir schlicht nicht geübt darin, mit Tod und Trauer umzugehen. Wir sollen produktiv sein, Leistung erbringen, resilient mit schwierigen Situationen umgehen. Ein Mensch, der tief in seiner Trauer steckt und aus ihr auch nicht gleich wieder herausfindet, passt da nicht hinein. Eine Fehlgeburt bringt uns aber als Mütter und Väter mit solchen Gefühlen in Berührung. Und letztlich ist es wichtig, dass wir über Tod, Trauer und Verlust sprechen – auch schon mit unseren Kindern. Nur so lernen sie, in gesunder Weise auch mit „schwierigen“ Gefühlen umzugehen.
Vor kurzem ist ein neues Gesetz beschlossen worden, dass Frauen bei einer Fehlgeburt ab der 13. Schwangerschaftswoche ermöglicht, in Mutterschutz zu gehen. Wie stehst du dazu?
Ich finde es sehr gut, dass es das Gesetz jetzt gibt. Natascha Sagorski als betroffene Mutter hat dazu ja ursprünglich eine Petition gestartet. Dass das Recht von Frauen auf Mutterschutz nach einer Fehlgeburt gesetzlich festgeschrieben wird, empfinde ich als großen Erfolg. Es zeigt, dass es Müttern, die ihr Kind in der Schwangerschaft verlieren, zusteht, sich Zeit für die Verarbeitung ihres Verlusts zu nehmen. Keine Frau muss den Mutterschutz bei Fehlgeburten in Anspruch nehmen, aber jede Mutter hat jetzt grundsätzlich das Recht dazu.
Allerdings betrifft die Regelung nach wie vor nur einen kleinen Teil der Frauen, die tatsächlich eine Fehlgeburt erleiden. 80 Prozent der Frauen verlieren ihr Kind zwischen der 1. und 12. Schwangerschaftswoche. Für sie gilt das neue Gesetz nicht. Es kann ihnen also passieren, dass sie direkt nach einer Fehlgeburt wieder zur Arbeit gehen müssen. Auch Väter werden bei der Regelung leider nicht berücksichtigt. Australien oder Neuseeland zeigen, wie es anders geht: Dort haben Eltern, unabhängig von ihrer biologischen Elternschaft, das Anrecht auf eine Auszeit zur Verarbeitung ihrer Trauer. Es sind zwar nur wenige Tage, aber ich empfinde diese als Signal: Hier sind zwei Menschen, die trauern und dabei unterstützen wir sie. Dieses Bewusstsein fehlt mir in Deutschland noch.
Was rätst du Frauen, die gerade eine Fehlgeburt erleben mussten?
Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, wie wichtig es ist, die dabei aufkommenden Gefühle zuzulassen. Dazu gehören neben Trauer oder Wut auch Gefühle von Schuld und Scham. Aus Studien wissen wir, dass mehr als jede zweite Frau sich nach einer Fehlgeburt schuldig fühlt. Dabei haben Fehlgeburten in den allermeisten Fällen medizinische Gründe, die die betroffenen Frauen gar nicht beeinflussen konnten. Außerdem rate ich allen Müttern – und auch Vätern –, bewusst Hilfe in Anspruch zu nehmen. Was viele nicht wissen: Als Mutter hast du auch nach einer Fehlgeburt Anspruch auf eine Hebamme, die dich körperlich und seelisch betreut. Außerdem gibt es Anlaufstellen wie Pro Familia, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen und auch Selbsthilfegruppen betroffener Eltern, an die du dich als Mutter oder Vater wenden kannst.
Ich selbst hatte damals ehrlicherweise weder die Kraft, aktiv nach Hilfe zu suchen, noch wusste ich wirklich, was ich in dieser Situation brauchte. Ich versuche heute, unter anderem in Unternehmen darüber aufzuklären, wie betroffene Frauen unterstützt und wieder in den Arbeitskontext integriert werden können. Schließlich ist der Arbeitsplatz oft der erste Ort, wo Frauen sich wegen einer Fehlgeburt krankmelden müssen und wo sie danach als Arbeitnehmerin auf Verständnis angewiesen sind.
Was hat dir persönlich und deiner Familie im Rückblick besonders geholfen?
Erst einmal, dass wir uns Zeit nehmen konnten, miteinander zu trauern. Der Arbeitgeber meines Mannes hatte viel Verständnis dafür, dass er sich zwei Wochen hat krankschreiben lassen. Wir haben lange Spaziergänge gemacht, miteinander geredet und auch gemeinsam geweint. Das hat uns geholfen, zu verstehen, dass wir zwar das Gleiche erlebt hatten, aber ganz unterschiedlich damit umgingen und auch auf verschiedene Weise trauerten. Überhaupt finden wir es bis heute hilfreich, mit dem Erlebten offen umzugehen und unser „Sternenkind“ bewusst in unsere Familie zu integrieren. So begehen wir den Jahrestag seiner Geburt, zünden eine Kerze an, haben einen Erinnerungsstein, der unser Kind für uns greifbar macht. Und wenn wir in den Himmel schauen und dort die Sterne sehen, denkt auch unsere Tochter immer an ihr Geschwisterchen.
Ich nehme überhaupt wahr, dass Kinder oft eine ganz besondere Fähigkeit haben, mit solch schmerzhaften Erfahrungen umzugehen. Indem wir mit unserer Tochter offen über unser Sternenkind sprechen, lernt sie, mit ihrer Trauer umzugehen und auch wieder aus ihr herauszufinden. Wir brauchen unsere Kinder nicht von schlimmen Ereignissen fernzuhalten, wir sollten ihnen zeigen, wie sie damit umgehen können.
Liebe Eva, wir danken dir für das offene Interview!
Hier kommt ihr zu Evas Buch „Mutter ohne Kind“
Beratungs- und Selbsthilfeangebote bei Fehlgeburten:
- Sternenkindfamilie.de
- Leere Wiege Landau/Pfalz und Leere Wiege Hannover
- Initiative Regenbogen
- Sternenzauber und Frühchenwunder e.V.
- Bundesverband „Das frühgeborene Kind“
Fotos: Anna McKay Photography
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