Familieninterview: „Wir fühlen uns hier sicher und frei.“

Manal (40) lebt mit ihrem Mann Diyaalden (50) und ihren drei Kindern Salam (10), William (6) und Sidra (4) in Potsdam. Ihre Heimat Syrien haben sie 2014 aufgrund des Krieges verlassen. Wie sie sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut haben und welche Hürden sie dabei überwinden mussten, das haben sie uns in ihrer Küche bei einem traditionellen syrischen Mittagessen erzählt.

Aus welchem Teil von Syrien kommt ihr?

Manal: Wir kommen aus Swaidaa, das liegt im Südwesten von Syrien. Die Menschen dort leben häufig von der Landwirtschaft, viele sind Obstbauern. Im Dorf meiner Familie leben etwa 5.000 Menschen, im Dorf meines Mannes ungefähr 7.000.

Und wie habt ihr euch dort kennengelernt?

(beide lachen) Manal: Im Bus! Das war eine schwierige Geschichte: Ich bin jeden Tag mit dem Bus zu meiner Universität nach Damaskus gefahren. Da fragte eine fremde Frau, ob neben mir noch ein Platz frei ist. Sie war sehr nett und wir haben geplaudert. Sie hat mich nach meinem Familiennamen gefragt, aus welchem Dorf ich komme, und ob ich einen Freund habe oder verheiratet sei. Ich dachte, das interessiert sie einfach und sie möchte mit mir befreundet sein. Ich wusste nicht, dass sie die Schwester meines späteren Mannes war. Kurz nach diesem Treffen bekam ich einen Anruf von der Frau aus dem Bus und ihrem Bruder. Sie fragten, ob sie uns besuchen dürften.

Familieninterview Manal Syrien

Deine Schwester wollte euch also verkuppeln, Diyaalden?

Diyaalden: Ja, meine Schwester kam an dem Tag nach Hause und erzählte mir, sie habe ein schönes Mädchen getroffen, das sei perfekt für mich. Damals war ich gerade auf der Suche nach einer Frau. Sie gab mir den Namen und die Telefonnummer und überredete mich dazu, anzurufen und um einen Besuch bei Manal und ihrer Familie zu bitten. Bei uns ist es so üblich, dass man sich nicht alleine, sondern im Kreise seiner Familie trifft. Normalerweise geht man mit seiner Mutter zum ersten Treffen. Aber meine Eltern waren bereits verstorben, also habe ich meine Schwester und meinen Bruder zu Manals Familie mitgenommen. Das war wie ein Familientreffen. Wir haben zusammen gesessen und uns unterhalten.

geschenke kind junge mädchen geschenkideen banner

Also hattet ihr quasi ein Blind Date. Was hat euch aneinander gefallen?

Manal: Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch gar nicht, was das für ein Treffen war. Vielleicht war ich ein bisschen naiv. Ich dachte, es ginge einfach um ein Familientreffen. Aber mein Vater hatte den Braten gerochen und mir erklärt, dass Diyaaldin ganz sicher eine Braut sucht. Und darüber war ich froh, denn wenn eine syrische Frau älter als 28 Jahre ist und heiratet, gilt das als spät. Ich war damals 27 Jahre alt und Diyaaldin war 36 Jahre alt. Das kam also sehr passend und er gefiel mir gut. Viele Männer, die ich kannte, sprachen nur darüber, was sie alles erreicht haben. Über ihr Geld, ihr tolles Auto oder ihr großes Haus. Bei Diyaaldin war das anders. Er war eher ruhig, fast schüchtern, und sehr ehrlich. Wir haben über unser Leben und die Familie geredet. Das fand ich toll.

Diyaalden: Mir hat alles an ihr auf den ersten Blick gefallen. Vor allem ihre schönen langen Haare. Am Ende haben unsere Familien gemeinsam entschieden, dass wir uns verloben. Manals Vater hatte sich bei einer Bekannten in meinem Dorf nach meiner Familie erkundigt. Auch meine Familie hat Informationen über Manals Familie eingeholt. Das ist bei uns so Tradition.

Manal: Ja, bei uns gilt, Kinder sind der Spiegel ihrer Eltern. Und wenn eine Familie Probleme hat, zum Beispiel mit Alkohol oder jemand hat im Gefängnis gesessen, dann sind das keine guten Voraussetzungen für eine Heirat. Bei uns hat alles gepasst. Wir haben uns dann noch zweimal getroffen, beim dritten Treffen haben wir uns verlobt. Zwei Monate später war die Hochzeit.

Wie habt ihr Hochzeit gefeiert?

Manal: Unsere Hochzeit dauerte drei Tage. Am ersten Tag haben wir den Abschied von meinen Eltern gefeiert. Es war eine große Party mit Familie, Freunden und Bekannten aus dem Dorf, etwa 500 Leute. Am Abend wurde ich traditionell von Diyaaldins Freunden „entführt“ und zu seiner Familie gebracht. Dort feierten wir mit rund 700 Leuten. Am letzten Tag haben wir nochmal im kleinen Kreis gefeiert, so dass unsere Familien sich näher kennenlernen konnten.

Familieninterview Manal Syrien Flucht

Flucht aus Syrien

Wie kam es dann dazu, dass ihr Syrien verlassen habt und nach Deutschland gekommen seid?

Manal: Wir sind vor 10 Jahren nach Deutschland gekommen. Als der Krieg in Syrien begann, war unsere Stadt nicht mehr sicher. Ich wurde schwanger und musste mitansehen, wie Häuser und Straßen von den Bomben zerstört wurden oder verbrannten. Diyaaldin hatte Angst um mich und unser ungeborenes Kind. Er wollte uns beschützen und Syrien verlassen. Anfangs weigerte ich mich, weil ich unbedingt mein Mathematik-Studium beenden und den Bachelor machen wollte. Aber als ich im 8. Monat schwanger war, gab es einen Anschlag mit einer Chemiebombe direkt neben meinem Studentenwohnheim. Wir konnten gerade so entkommen, es war sehr knapp. Da war mir klar, dass wir gehen mussten. Es war einfach zu gefährlich. Dazu kam, dass die Gefahr immer größer wurde, dass Diyaaldin in die Armee eingezogen wird. Dann wäre ich mit dem Baby alleine gewesen. Das wollten wir auf jeden Fall verhindern.

Diyaalden: Mein Bruder studierte zu dem Zeitpunkt hier in Potsdam. Er hatte von der Ausländerbehörde die Erlaubnis, seine Familie nach Deutschland zu holen. Diese Chance haben wir dann genutzt und sind mit einem normalen Visum nach Deutschland gekommen. Das war kurz nachdem unsere Tochter Salam geboren wurde.

Wie schwierig war es, in Deutschland ein neues Zuhause zu finden?

Diyaalden: Erst haben wir bei meinem Bruder im Studentenwohnheim gewohnt. Dann haben wir kurzzeitig in einem Zimmer gelebt, das mein Bruder über seine Arbeit mieten konnte. Er hat uns bei allem unterstützt, vor allem beim Übersetzen unserer Dokumente. Dann haben wir zum Glück eine eigene Drei-Zimmer-Wohnung gefunden, in der wir bis heute mit unseren drei Kindern leben.

Wie ging es euch in der ersten Zeit? Habt ihr eure Familie vermisst?

Manal: Am Anfang war es sehr schwer. Ich habe den ganzen Tag geweint. Wir hatten kein Internet und eine schlechte Telefonverbindung. Also bin ich mitten im Winter zweimal pro Woche mit meinem Baby auf dem Arm durch den Schnee zu meinem Schwager gelaufen, um meine Mutter anzurufen.

Wie habt ihr Deutsch gelernt?

Manal: Das war ein großes Problem. Ich verstand kein Wort, für mich bestand die deutsche Sprache nur aus komischen Lauten wie „sch“ und „kch“. Ich fragte mich: Was machen die Leute mit dem Mund? Mein Mann hat einen Deutschkurs besucht, aber ich war mit Salam zu Hause und konnte das erste Jahr gar kein Deutsch. Dadurch kam es zu vielen lustigen Missverständnissen mit unseren Nachbarn. Wir haben uns mit Händen und Füßen verständigt, und oft musste mein Schwager dabei helfen, zu verstehen, was die Leute meinen. Auch Einkaufen konnten wir anfangs nicht alleine. Dann habe ich angefangen, mir Videos auf YouTube anzuschauen und einen Sprachkurs an der Volkshochschule gemacht.

Eure Tochter Salam kam als Baby nach Deutschland, die beiden Jüngeren sind hier geboren. Welche Sprache sprecht ihr zu Hause – Deutsch oder Arabisch?

Manal: Salam hatte zuerst Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, weil wir ja zu Hause nur arabisch gesprochen haben. Sie ging zwar zur Kita, aber da wir keine Freunde hatten, waren wir nachmittags immer zu Hause. Der Austausch mit anderen Kindern fehlte ihr. Bis sie drei Jahre alt war, hat sie nur wenig deutsch gesprochen, zum Beispiel „Mama“ und Papa“. Dann fand ich eine deutsche Freundin, mit der wir viel Zeit verbrachten und plötzlich hat sie sehr schnell neue Worte gelernt. Für unsere jüngeren Kinder war es leichter. Unser Kinderarzt hatte uns sogar geraten, zu Hause Arabisch zu sprechen, damit die Kinder das „korrekte“ Deutsch in der Kita lernen können. Mittlerweile sprechen wir beide Sprachen mit ihnen. Aber unsere jüngste Tochter Sidra spricht besser Deutsch als Arabisch. 

Wieviel erzählt ihr euren Kindern über eure Heimat?

Manal: Salam fragt oft nach ihrer Oma und ihrem Opa. Sie interessiert sich sehr für unsere Herkunft. Vor fünf Jahren sind wir noch einmal nach Syrien geflogen, weil meine Mutter schwer erkrankt war, aber das war eine Katastrophe. Alles sah anders aus, als wir es kannten. Die Städte waren kaputt, es gab keinen Strom und die Menschen waren arm und verzweifelt. Das ist so traurig. Dort werden keine Feste mehr gefeiert, weil jede Familie einen Vater, eine Schwester oder ein Kind im Krieg verloren hat. Die Menschen haben keinen Grund mehr zum Feiern. Außerdem hatten wir während unserer Reise die ganze Zeit Angst, dass Diyaaldin von der Armee eingezogen wird.

Der Alltag in Deutschland

Wie sieht euer Alltag aus? Worauf legt ihr bei der Erziehung eurer Kinder Wert?

Manal: Uns ist es wichtig, viel Zeit mit unseren Kindern zu verbringen und ihre Talente zu fördern. Unser Sohn William spielt Gitarre und macht Karate und spielt Schach. Unsere älteste Tochter Salam spielt Geige, ist im Spielmannszug und kann sehr gut malen. Sie zeichnet tolle Portraits und besucht einen Kunstkurs. Außerdem geht sie zum Arabischkurs, um arabisch schreiben zu lernen. Sidra lernt auch schon Gitarre spielen.

Familieninterview Syrien Flucht Potsdam

Das klingt nach viel Organisationsaufwand. Wie managt ihr die vielen Termine?

Manal: Wir haben Unterstützung von meiner Familie. Meine kleine Schwester ist ebenfalls nach Potsdam gekommen und mein großer Bruder wohnt sogar mit seiner Familie bei uns im Haus. Wir sehen uns fast täglich, essen gemeinsam und hüten gegenseitig unsere Kinder. Mein Bruder ist vor 8 Jahren aus Syrien geflüchtet. Mit einem Boot kam er von der Türkei nach Griechenland. Das war sehr hart. An Bord waren etwa 40 Leute, darunter viele Frauen und Kinder. Sie wurden von einem heftigen Sturm hin- und hergeworfen, die meisten konnten nicht schwimmen. Zum Glück haben alle überlebt. Seit gestern Abend ist er mit seiner Frau im Krankenhaus, sie bekommen ihr drittes Kind. Wir warten alle gespannt auf eine Nachricht von ihnen.

Habt ihr syrische Traditionen in der Familie? Welche Rolle spielt Religion für euch?

Manal: Wir sind nicht im Islam. Wir gehören zu den Drusen, das ist eine religiöse Minderheit, weltweit gibt es davon etwa eine Million. Das bedeutet, wir gehen nicht in die Moschee und tragen keine religiöse Kleidung. Die Frauen tragen kein Kopftuch. Alkohol, Rauchen und Schweinefleisch essen sind in unserer Religion verboten, weil unser Körper uns von Gott geschenkt wurde. Darum müssen wir uns um ihn kümmern und gesund bleiben. Wir essen zwar gelegentlich Fleisch, aber meistens koche ich vegetarisch. Mein Mann und ich lieben typisch syrische Gerichte mit Couscous oder Bulgur. Dazu gibt es gefüllte Weinblätter und Fattusch, das ist Salat mit frittiertem Fladenbrot. Aber unsere Kinder essen am liebsten Nudeln und Chicken Nuggets 😉

Konntet ihr in euren ursprünglichen Beruf zurückkehren?

Diyaalden: Leider nicht. Ich habe in Syrien 20 Jahre als Mathematiklehrer an einer Realschule gearbeitet. Aber meine Zeugnisse wurden hier nicht anerkannt und meine deutsche Sprache war zu schlecht. Demnächst beginne ich eine Ausbildung zum Buchhalter.

Manal: Ich habe hier erst eine Ausbildung zur Sozialassistentin gemacht und starte jetzt noch eine weitere Ausbildung zur Erzieherin.

Familieninterview Syrien Flucht Potsdam

Du engagierst dich ehrenamtlich für verschiedene Projekte in Potsdam – warum liegt dir das am Herzen?

Manal: Ja, ich habe drei Jahre ehrenamtlich als Arabischlehrerin und Familienunterstützerin bei einem AWO-Projekt gearbeitet, jetzt habe ich dort einen Minijob. Außerdem engagiere ich mich im Verein „Start with a friend“. Dort bringen wir Menschen, die neu in Deutschland sind, mit Einheimischen zusammen. Im Verein „Kultür Potsdam“ helfe ich arabischen Familien dabei, dass sie an Kulturveranstaltungen teilnehmen können. Seit kurzem bin ich Mitglied im Migrantenbeirat der Stadt Potsdam. Und dann organisiere ich ein arabisches Kulturfest im Eltern-Kind-Zentrum der AWO, das im September stattfindet. Für mich ist der Kontakt mit Menschen unglaublich wichtig. Ich tausche mich gerne aus und erfahre etwas über andere Kulturen. Auch die Arbeit mit Kindern macht mir großen Spaß. Und natürlich ist es toll, helfen zu können. Beispielsweise wenn eine arabische oder eine afrikanische Familie ein Problem mit einer Nachzahlung oder mit einem Formular hat.

Würdest du sagen, dass ihr euch mittlerweile hier zu Hause fühlt?

Manal: Ja und nein. Für meine Kinder ist das hier das bessere Leben, sie können unbeschwert aufwachsen. Wir fühlen uns hier sicher, machen gerne Ausflüge, zum Beispiel in den Volkspark, und gehen gerne ins Kino. Aber ich denke oft an meine Mutter. Wir verfolgen die politische Lage in Syrien sehr aufmerksam, hauptsächlich über Social Media. Wir haben ständig Angst vor schlechten Nachrichten. Es ist schwierig, aber das Wichtigste ist, dass unsere Kinder in Freiheit sind.

Vielen Dank für eure Offenheit und alles Gute!

Hier findet ihr noch weitere spannende Familieninterviews:

Interview: „Ich genieße jeden Moment, den wir als Familie haben“

interview familie potsdam pola magazin sandra lotta rollstuhl

Interview: “Das Leben mit drei kleinen Kindern? It’s a challenge!“

Schwangerschaft Baby Interview Kleinkind Familie

*  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *
pola newsletterLust auf mehr? Um über aktuelle Beiträge, Elterntipps, Rezeptideen, Bastelanleitungen und mehr auf dem Laufenden zu bleiben, hol dir unseren Newsletter und folge uns bei Instagram, Pinterest und Facebook!

*  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *  *

Verwendete Stichworte
, , ,
0 replies on “Familieninterview: „Wir fühlen uns hier sicher und frei.“”