Lügen ist in unserer Gesellschaft eigentlich verpönt, außer man hat Kinder, dann ist die Lüge nicht nur allgemein akzeptiert, sondern spinnt sich wie ein kollektives Netz um das Leben der lieben Kleinen. Eingelullt von Lug und Trug wabern sie durch ihre Kindheit bis wir ihnen nichts mehr vormachen können und schlimmstenfalls erkennen müssen, dass plötzlich wir die Belogenen sind.
Ein wesentlicher Bestandteil erwachsener Beziehung ist die Lüge. Richtig angewendet gibt sie uns das warme Gefühl, super Typen zu sein, voll knorke, echt in Ordnung. Wohldosiert lässt sie unser Weltbild dort in Ruhe, wo es sonst wehtun könnte und setzt ein Sahnehäubchen auf die Stellen, die wir gerne mögen. Was für ein tolles Leben – aber gibt es überhaupt ein richtiges Leben im falschen?
Es fängt ganz harmlos an. Als positiv bestärkendes Elternteil lobt man natürlich alles, was der Nachwuchs Neues kann über den grünen Klee. Das Kind lernt schnell, was es tun muss, um den Eltern zu gefallen. Zwei Bausteine aufeinander? Toll! Den Löffel alleine halten und tatsächlich etwas Essen in den Mund befördern? Applaus! Zwei Striche auf einem weißen Blatt Papier? Kunst! Nur leider scheint der Erwartungshorizont nicht mitzuwachsen. Ein Geburtstagsbild mit drei Mondgesichtern, die alle aussehen, als hätten sie mit einer schweren Erdnussallergie beherzt in die Tüte Studentenfutter gegriffen, kommt von einem Teenager eher last minute als von Herzen. Knetfiguren aus der Hölle oder Bastelarbeiten jenseits von Gut und Böse sind manchmal einfach nur misslungen, aber mit verblendeter Anerkennung ist hier niemandem geholfen. Denn um noch mehr Lob einzuheimsen, wird gern auch mal die Produktion hochgefahren und dann muss man sehen, wo man die Armee aus verunglückter Knete würdevoll unterbringt. Eltern tischen ihren Kindern eine unverschämte Menge Lügen auf. Immer bewaffnet mit der kindlichen Unschuld, die es zu wahren gilt als Ausrede für ein klassisches Vermeidungsverhalten von Erwachsenen. Denn die Lüge hilft meistens nur dabei, einfach weitermachen zu können, ohne sich wirklich mit dem Kind und dem Thema auseinanderzusetzen. Denn das würde bedeuten, all die Emotionen auszuhalten, die mit ehrlichen Worten einhergehen. Dabei wäre die halbe Stunde wirklich gut investiert.
Die Lüge, ein gefährliches Lob
Wenn der liebe Sohn immer mit Halbherzigkeiten durchkommt und dafür auch noch überschwänglich beklatscht wird, muss man sich nicht wundern, wenn der Erwachsene dann an gnadenloser Selbstüberschätzung leidet. Das Phänomen Michael Wendler erklärt sich leicht, wenn man bedenkt, dass seine Mutter den kleinen Michael wohl leichtsinnig über Jahre und völlig übertrieben in die Charts gelobt hat.
Pauschales Lob ist nicht nur schwammig, es ist auch lieblos und sogar schädlich. Mit der Absicht, das Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken, überschütten es manche Eltern mit Zustimmung. Das befördert nachweislich die Ausbildung narzisstischer Persönlichkeitszüge, verbessert aber leider nicht die Gesangsleistung oder künstlerische Fähigkeiten. Eine ehrliche Zuwendung lobt genauer, sagt etwas über Einzelheiten, die Idee, die Genauigkeit der Umsetzung, um an anderer Stelle vielleicht eine Hilfestellung anzubieten. Wie sind die Proportionen in einem Gesicht? Wie viele Reifen sieht man wirklich, wenn man ein Auto von der Seite malt? Kinder, mit denen man sich auseinandersetzt, fühlen sich geliebt. Wenn sie ernst genommen werden, können sie echtes Selbstvertrauen aufbauen. Sie bekommen Sicherheit und brauchen auch im Erwachsenenalter keinen tosenden Beifall oder wohlmeinende Lügen, um sich selbst zu verwirklichen. Sie machen einfach ihr Ding.
Haarige Wahrheiten
Das zugewandte Lob ist unter den Wahrheiten leider noch die leichteste Übung. Tatsachen, die tief enttäuschen und wehtun, gehören zu den richtig schwierigen Elternmanövern. Wenn z.B. gegen unseren Willen ein haariger Vierbeiner zuhause einziehen soll, muss auch mal Klartext gesprochen werden. Oft wird aber nur vertröstet in der Hoffnung, man könnte das Thema irgendwie aussitzen. Ist man sicher, dass man sich nicht mit Hasso oder Minka in einem Haushalt sieht, muss man das auch sagen. Dem eigenen Kind die Hoffnung auf die Erfüllung eines Wunsches zu nehmen, scheint grausam zu sein, aber diese Hoffnung ständig zu befüttern und sie dann nie zu erfüllen, ist die eigentliche Herzlosigkeit. Ein ordentliches „Nein“ birgt erstmal eine riesige Enttäuschung, hilft aber dabei abzuschließen, loszulassen, die Tatsachen zu akzeptieren. Nur zu gern möchten wir alles Schmerzhafte von unseren Kindern fernhalten, aber wir dürfen nicht so tun, als gäbe es den Tod nicht, das Verbrechen, den Schicksalsschlag – sprich: die ganz, ganz bitteren Wahrheiten. Wir müssen unseren Kindern irgendwann auch die unangenehmen Gefühle zutrauen. Sie gemeinsam auszuhalten, Fragen zu beantworten, um die Wunden langsam heilen zu lassen, sind die großen Aufgaben hinter den unschönen Wahrheiten, denn sie sind Teil des Lebens.
Kreative Wahrheiten
Manchmal geht uns das Leben mit seinen ganzen Herausforderungen und Ansprüchen aber auch gehörig auf die Nerven und kein Mensch hat Bock, jede Kleinigkeit mit einem 2-jährigen zu diskutieren. Wie auch? In diesem Alter ist das Verständnis stark begrenzt und man kommt schnell an seine Grenzen, wenn man lang und breit darlegt, warum man im Supermarkt die überteuerte Tüte Zuckerzeug mit den ganzen E- und Farbstoffen lieber nicht kaufen will und zur Antwort bekommt: „Da ist ein Bär drauf.“ Vielleicht dürfen wir hier die Wahrheit ein wenig dehnen und sie so unter eine der wirkungsvollsten Erziehungsmethoden subsumieren, die es auf der Welt gibt: Angst und Schrecken! Die Tüte Gummibären landet schneller wieder im Regal, wenn wir einfach behauten, das wäre Gift und so lernt das Kind gleich, dass den bunten Verpackungen auch nicht zu trauen ist. Getrieben von blank liegenden Nerven müssen wir nun mal mit dem arbeiten, was da ist. „Das nervige Geräusche-Auto muss jetzt mal schlafen“, versteht ein Kleinkind eher als: „Wenn es noch ein einziges Mal Tatü-Tata macht, trete ich drauf!“.
Für all diese Notlügen zahlen wir als Erziehungsberechtigte natürlich einen hohen Preis. Um nicht als Lügner entlarvt zu werden, essen wir Süßigkeiten, von denen wir ständig behaupten, sie wären alle oder giftig nur noch heimlich hinter der Küchentür. Wenn wir am Ballonstand erklären, wir hätten kein Geld dabei, können wir 200 m weiter auch keinen Blumenstrauß kaufen und wer ankündigt, dass die Polizei kommt, wenn man ohne Helm Rad fährt, der muss dann wohl oder übel auch einen tragen. Auf ganz dünnem Eis stehen wir, wenn wir Konsequenzen androhen, die wir überhaupt nicht einhalten können. Das Flugzeug dreht nämlich auf gar keinen Fall um, weil Torben-Lukas einfach nicht ruhig sein will. Hat das Kind eine leere Drohung einmal als solche erkannt, steht man wie ein Trottel da. Gut beraten ist man, wenn man möglichst dicht an der Wahrheit schwindelt und sinnvolle Zusammenhänge schafft. „Iss auf, sonst wird morgen schlechtes Wetter.“ ist nicht nur am natürlichen Sättigungsgefühl vorbei, sondern auch völlig zusammenhanglos. Dicke Leute haben vielleicht ein sonniges Gemüt, aber keinen Einfluss aufs Wetter. Richtig unter Druck gerät man, wenn Vorbildfunktion und Sucht miteinander konkurrieren. Man kann einfach nicht nachvollziehbar darlegen, warum man Tabakrauch inhaliert, sich somit freiwillig dem frühen Rauchertod entgegenquarzt und gleichzeitig nur schadstofffreie Kosmetik kauft. Also raucht man wieder heimlich wie ein Teenager, um dem Kind die eigene Widersprüchlichkeit zu ersparen.
Stille Wahrheiten
Auch unter Erwachsenen ist die Lüge immer ein Risiko. Wenn wir eingeladen sind, lügen wir beim Essen in der Hoffnung, dass kein Mensch zweimal so schlecht kochen kann. Vorsicht bei verlegenen Komplimenten zu auffallenden Geschmacklosigkeiten, die liegen dann schlimmstenfalls unterm Weihnachtsbaum, weil sie einem doch so gut gefallen hätten.
Gemeinhin gilt der ehrliche Mensch als Sympath. Als wäre auf denjenigen besonders Verlass, als könnte der keinem was zu leide tun, oder wäre noch jemand mit den guten alten Werten, doch das kann eigentlich nicht die Wahrheit sein, denn die allerletzte Reaktion auf Ehrlichkeit ist Sympathie. Die ehrliche Haut hat oft einfach nur dickes Fell. Viel eher ist es doch so, dass wir die Leute schätzen, die empathisch sind. Die Menschen, die genau wissen, wann ihre Wahrheit überhaupt nicht gefragt ist, die spüren, wann die schmerzenden Fakten viel besser weiterhelfen als die beruhigende Lüge, die, die erkennen, dass ihre Wahrheit nur eine von vielen möglichen ist und die es deswegen schaffen, die 2000er-Bill Kaulitz-Gedächtnis-Frisur der Kollegin einfach zu ignorieren.
Kinder zur Ehrlichkeit zu erziehen ist also hochkomplex und voller Ungereimtheiten. Wenn die Kinder klein sind, lügen wir sie an, um ihnen vorzumachen, wir wüssten, was richtig ist und wären ein gutes Vorbild. Später, wenn sie groß sind und ihre eigenen Wahrheiten finden, lügen sie uns an, um uns vorzumachen, wir wären es gewesen.
Die erste Kolumne aus unserer neuen Reihe könnt ihr hier nachlesen: Sagt euren Kindern …, dass Mama auch ein Leben hat – Wer sich selbst aufgibt, hat als Mutter versagt!
Text: Dea Stein
Foto: pexels // Katie E
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