„Wir sind stärker als die Krankheit“ – Franziska über das Leben mit ihrer Tochter Emily, die an ME/CFS leidet

interview ME/CFS Myalgische Enzephalomyelitis Chronisches Fatigue-Syndrom beim kind

Franziska (38) lebt mit ihrer Tochter Emily (10) in Potsdam Bornstedt. Emily ist schwer erkrankt – sie leidet an Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Die Krankheit ist bislang kaum erforscht, betrifft in Deutschland aber schätzungsweise bis zu 140.000 Kinder und rund 750.000 Erwachsene. Im Gespräch mit POLA erzählt Franziska, wie die Diagnose ihr Leben verändert hat, wie sie und Emily den Alltag gestalten und welche Wünsche sie für die Zukunft haben.

Liebe Franziska, unter welcher Krankheit leidet Emily genau – und was bedeutet diese Diagnose?

Franziska: Emily hat ME/CFS, eine schwere, multisystemische Erkrankung, die lange unterschätzt wurde und deren Ursache bis heute nicht vollständig geklärt ist. Sie betrifft das Immunsystem, das Nervensystem, die Muskeln und oft auch den Verdauungstrakt. Das Leitsymptom ist die sogenannte Belastungsintoleranz: Sobald Emily sich überfordert – körperlich, geistig oder auch emotional – verschlechtert sich ihr Zustand dramatisch. Man nennt diesen Zusammenbruch „Crash“. Für sie heißt das: absolute Ruhe, Rückzug von äußeren Reizen, kein Besuch, keine Schule. Besonders schwierig ist, dass es bislang weder zugelassene Medikamente noch echte Therapien gibt. Viele Familien stehen damit völlig alleine da.

interview ME/CFS

„Viele Familien stehen damit völlig alleine da.“

Wann haben sich bei Emily die ersten Symptome gezeigt?

Franziska: Das hat nach dem Herbsturlaub 2024 begonnen. Kurz nach der Rückreise aus Albanien bekam Emily hohes Fieber. Zunächst dachten wir an einen normalen Infekt. Nach den Herbstferien ging sie noch eine Woche in die Schule, dann musste ich sie abholen – seitdem ist sie zu Hause. Sie war extrem erschöpft, hatte Kopfschmerzen, konnte zeitweise kaum essen oder sich bewegen. Wir waren mehrfach im Krankenhaus, aber die Ratschläge dort – frische Luft, Physiotherapie, Mobilisation – verschlimmerten alles nur. Erst eine Fallkonferenz mit Spezialisten für ME/CFS stellte dann im April die richtige Diagnose: schweres ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom). Das war einerseits ein Schock, andererseits auch eine Erleichterung, endlich zu wissen, was los ist.

Wie hat sich euer Alltag verändert?

Franziska: Komplett. Emily ist bettlägerig, ihr Zimmer ist abgedunkelt, Schule oder Treffen mit Freunden sind unmöglich. Selbst kleine Dinge wie Vorlesen oder Spiele können zu anstrengend sein. Wir müssen unseren Tag streng strukturieren: keine Reize, keine Besucher, viel Ruhe. Medikamente aus der Schulmedizin haben bei ihr bisher keine Linderung der Symptome gebracht. Stattdessen probieren wir Nahrungsergänzungsmittel, antientzündliche Ernährung und alternative Ansätze aus. Aber alles müssen wir privat bezahlen, weil es keine zugelassenen Therapien gibt.

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„Selbst kleine Dinge können zu anstrengend sein.“

Gibt es Hoffnung auf Heilung?

Franziska: Bei Kindern sind die Chancen besser als bei Erwachsenen, vor allem wenn die Diagnose früh gestellt wird – was bei Emily zum Glück relativ schnell erfolgt ist. Es gibt Fälle, die nach ein bis zwei Jahren genesen. Ich halte mich an dieser Hoffnung fest und glaube daran, dass wir das schaffen. Emily selbst ist unglaublich positiv und sagt immer: „Ich bin stärker als die Krankheit.“ Das motiviert uns beide.

Was sind die größten Herausforderungen für dich als Mutter?

Franziska: Man ist plötzlich in jeder Hinsicht alleine – medizinisch, organisatorisch und emotional. Viele Ärztinnen und Ärzte kennen die Krankheit nicht oder zweifeln sie sogar an, aber sie kann einen Menschen aus dem Leben reißen. Dabei brauchen wir dringend mehr Forschung, Biomarker und Therapien. Dazu kommt, dass wir unser Leben komplett umstellen mussten: keine Schule, kaum Familie, viel Isolation. Ich bin alleinerziehend und arbeite 30 Stunden im Homeoffice, damit ich für Emily da sein kann. Eigentlich ist es nicht aushaltbar, die Krankheit hat meiner Tochter alles genommen – aber ich bin grundsätzlich ein positiver Mensch und schöpfe immer wieder Kraft aus Emilys Stärke.

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„Ich schöpfe immer wieder Kraft aus Emilys Stärke.“

Welche Unterstützung könnte Familien wie eurer helfen?

Franziska: Ganz klar: mehr Aufklärung und Forschung. ME/CFS verursacht in Deutschland enorme gesellschaftliche Kosten, aber trotzdem steht kaum Geld zur Verfügung. Patienten und ihre Familien sind gezwungen, auf eigene Kosten zu experimentieren. Was uns auch sehr hilft, ist die Community, zum Beispiel über den Verein NichtGenesenKids e.V. Dort gibt es Beratung, Vorträge und Austausch. Sich zu vernetzen ist unglaublich wichtig, damit man merkt: Wir sind nicht allein.

Wie gelingt es dir, trotz allem optimistisch zu bleiben?

Franziska: Es war ein Prozess. Am Anfang habe ich mich zurückgezogen, konnte kaum darüber sprechen. Inzwischen habe ich mir viel Wissen angeeignet, mache selbst Psychotherapie, wir haben mittlerweile tolle Ärzt:innen und Therapeut:innen und jede kleinste positive Erfahrung mit Emily gibt uns Kraft. Wir überlegen jeden Tag, was wir Kleines zusammen machen können – manchmal nur ein gemeinsames Gespräch oder ein Lächeln. Ich habe das Glück, dass unsere Familie, Freunde und mein Arbeitgeber sowie meine Kolleg:innen mich unterstützen. Und jedes Mal, wenn ich Emily sehe, denke ich: Ja, wir schaffen das.

Was wünschst du dir für Emily und für die Zukunft der Forschung?

Franziska: Ich wünsche mir, dass ME/CFS endlich ernst genommen wird. Dass es Medikamente, Therapien und eine wirksame Versorgung gibt. Vor allem wünsche ich mir, dass Kinder wie Emily endlich eine Chance auf ein normales Leben bekommen. Und dass Familien nicht mehr auf dem Zahnfleisch gehen müssen, weil sie alles alleine schultern. Meine größte Hoffnung ist natürlich, dass Emily gesund wird – und wieder alles machen kann, was sie liebt.

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„Niemand sollte diesen Weg alleine gehen.“

Und was würdest du anderen Familien raten, die gerade eine ähnliche Situation durchmachen?

Franziska: Hört auf euer Bauchgefühl und euer Kind. Die Kinder spüren am besten, was ihnen guttut oder nicht. Holt euch Hilfe, vernetzt euch und sucht Ärzt:innen, die euch ernst nehmen. Niemand sollte diesen Weg alleine gehen.

Vielen Dank für deine Offenheit und Gute Besserung für Emily!

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