Nilima (39) und Avishkar (39) leben mit ihren Kindern Evaan (7) und Enera (1) seit sechs Jahren in Potsdam, aufgewachsen sind sie in Mumbai. Welche Traditionen sie aus ihrer Heimat Indien mitgebracht haben und warum ein Besuch auf dem Spielplatz für sie ein Stück Freiheit ist, das haben sie uns bei einer Tasse Chai Latte in ihrem Wohnzimmer verraten.
Was ist das Schönste, das ihr in letzter Zeit als Familie in Potsdam erlebt habt?
Nilima: Letztens waren wir bei schönstem Sonnenschein im Volkspark spazieren. Enera konnte mit der Schaukel und Evaan mit Pfeil und Bogen spielen. Das ist ein besonderer Bogen, er ist handgearbeitet und ein Geschenk von einem Freund aus Indien. Wenn wir ihn benutzen wollen, müssen wir raus auf die große Wiese, denn er fliegt sehr hoch und weit. Zum Glück wohnen wir nur ein paar Meter vom Volkspark entfernt.
Wie würdet ihr euren Alltag in drei Worten beschreiben?
Nilima: Das erste Wort ist „Disziplin“. Wir sind nur zu zweit und haben keine Familie, die uns im Alltag unterstützen kann. Wir müssen uns straff organisieren, wer die Kinder bringt, wer einkauft und Essen vorbereitet. Das zweite Wort ist „Zeit“. Wir versuchen, soviel Zeit wie möglich mit der Familie zu verbringen. Nachmittags gehen wir gerne in den Park oder auf einen Spielplatz. Und das dritte ist „Essen“. Gemeinsames Essen ist uns unglaublich wichtig. Abends essen wir immer alle zusammen. Das kann unter der Woche ein einfaches Reis- oder Nudelgericht mit viel Gemüse sein, weil wir beide Vollzeit arbeiten und wenig Zeit zum Kochen haben. Aber am Wochenende gibt es immer etwas Indisches, denn indische Gerichte brauchen viel Zeit in der Zubereitung.
Wie habt ihr euch kennengelernt?
Nilima: Wir sind beide in Mumbai, Indien, aufgewachsen. Als Kinder waren wir zusammen in einer Schule, sogar in der gleichen Klasse. Aber wir waren nicht befreundet. Und das wäre wohl auch so geblieben, wenn es nicht viele Jahre später ein Klassentreffen gegeben hätte. Dort haben wir uns wiedergesehen und Nummern ausgetauscht. Meine Familie wollte damals in einen anderen Stadtteil umziehen, in dem auch Avishkar lebte. Ich habe ihn gefragt, ob er mir helfen könne, denn ich kannte mich dort nicht aus und hatte keine Freunde. Er hat mir viele neue Orte gezeigt und wir wurden beste Freunde. Irgendwann haben wir uns ineinander verliebt. Als er mich gefragt hat, ob ich ihn heiraten möchte, war ich besorgt, denn die Zustimmung der Eltern ist in Indien sehr wichtig. Meine Eltern hatten anfangs ein Problem mit der Beziehung, weil unsere Familien zwei unterschiedlichen Religionen angehören. Aber dann haben sie ihn persönlich kennengelernt und waren einverstanden.
War eure Hochzeit so bunt und prunkvoll, wie wir es aus Bollywood-Filmen kennen?
Nilima: Naja, wir hatten eine vergleichsweise kurze Hochzeit. Normalerweise sind die indischen Hochzeiten 4-5 Tage lang, weil es so viele unterschiedliche Zeremonien und Rituale gibt. Während die meisten indischen Hochzeiten rund 1.000 Gäste haben, hatten wir nur 500. Wir haben zwei Tage lang kompakt gefeiert und das war schon sehr aufwändig. Ich musste mich viermal am Tag umziehen für die verschiedenen Rituale, Henna auftragen, Make-up, Haare und Accessoires wechseln. Avishkar musste sehr lange auf mich warten. (lacht)
Ihr lebt mittlerweile seit sechs Jahren in Potsdam. Was hat euch hergeführt?
Nilima: Mein Studium. Ich hatte von der Uni Potsdam eine Einladung bekommen, meine Doktorarbeit hier zu schreiben. Zu dem Zeitpunkt war ich mit unserem Sohn schwanger. Nur wenige Tage, nachdem ich die Zusage meines Professors erhalten habe, wurde Evaan geboren. Ich war unsicher, ob ich den Schritt gehen sollte. Schließlich ist das erste Jahr mit Baby herausfordernd, und dann ein fremdes Land, eine neue Uni… aber mein Professor war zuversichtlich und traute mir zu, dass ich es schaffe.
Avishkar: Bevor ich nach Deutschland kam, habe ich in den USA und im Nahen Osten als Ingenieur gearbeitet. Auch Nilima hat früher im Oman gearbeitet. Sie ist dann aber aufgrund der Schwangerschaft nach Indien gereist, um bei ihrer Familie zu sein. Dann kam diese Einladung, vorher waren wir unsicher wegen der Sprache und ob ich hier einen Job finde oder nicht. Aber es hat alles gut geklappt. Wir haben dann das Visum für uns alle beantragt und sind nach Deutschland gekommen.
„Da, wo wir herkamen, war es richtig heiß – 50 Grad im Oman und 30 Grad in Indien. Hier herrschten Minusgrade, das war hart!“
Wie schwierig war die erste Zeit in Potsdam für euch?
Avishkar: Sehr schwierig. Es war Winter, als wir in Deutschland gelandet sind. Da, wo wir herkamen, war es richtig heiß – 50 Grad im Oman und 30 Grad in Indien. Hier herrschten Minusgrade, das war hart!
Nilima: Außerdem konnten wir kein Deutsch. Mein Mann hatte ja schon im Oman angefangen, Deutsch zu lernen. Aber ich hatte keine Zeit dafür, mit Baby und Studium. Und eine Wohnung zu finden, war auch eine echte Herausforderung. Anfangs bekamen wir eine Wohnung über die Uni, aber danach waren wir auf uns gestellt. Vor allem das Übersetzen fiel uns schwer, und eine Besichtigung für eine Wohnung zu bekommen. Es gibt hier so viel Bürokratie. Wir hatten niemals zuvor so viele Briefe im Briefkasten. In Mumbai schickt niemand einen Brief, auch die Behörden nicht. Es funktioniert alles digital. Und witzig fanden wir auch: Evaan hat als Baby seine Steuernummer bekommen, das war eine große Überraschung für uns.
Ist es mittlerweile leichter?
Avishkar: Ja, wir sind hier gut angekommen. Wir verstehen die Sprache und die deutsche Mentalität viel besser. Ich arbeite in der Informatik im SAP-Bereich einer großen Bank. Meine Frau leitet die Personalabteilung einer Firma. Sie pendelt zwei Tage die Woche nach Hamburg, dann bin ich mit den Kindern alleine.
Und, wie klappt das?
Avishkar (lacht): Super, wir haben dann immer Partytime! Nein, im Ernst. Das klappt sehr gut, auch deshalb, weil Nilima und ich vorher genau besprechen, an welche Zeiten wir uns halten müssen und was es zu essen gibt. Wir sind ein gutes Team, aber die Kinder freuen sich immer riesig, wenn die Mama wieder da ist.
„Wir lassen unsere Kinder einfach Kinder sein.“
Wie erleben eure Kinder den Alltag hier in Potsdam? Gibt es Unterschiede zu eurer eigenen Kindheit in Indien?
Nilima: Auf jeden Fall! In Indien startet die Pre-School für Kinder mit 2,5 bis 3 Jahren. Dort lernen sie das ABC, schreiben, lesen und wenn sie 6 Jahre alt sind, können sie schon mindestens zwei Sprachen sprechen – also ihre Muttersprache, die ist in jedem Bundesland anders, sowie Englisch und Hindi.
Welche Sprache sprecht ihr zu Hause?
Avishkar: Mit unseren Kindern sprechen wir unsere Muttersprache, das ist „Marathi“. Evaan ist zweisprachig – Deutsch und Marathi, er versteht auch Hindi und Englisch. Enera lernt zur Zeit drei Sprachen gleichzeitig. Oft switchen wir in unseren Gesprächen zwischen den Sprachen hin und her. Das klingt für Außenstehende manchmal etwas verwirrend.
Nilima: Generell erleben unsere Kinder hier deutlich mehr Freizeit. Unsere Kindheit in Indien war sehr durchgetaktet. Vormittags Schule, nachmittags verschiedene Kurse und übermäßig viele Hausaufgaben. Die meisten Eltern machen viel Druck, damit ihre Kinder später gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Abends haben die Kinder vielleicht eine halbe Stunde Zeit zum Spielen und das machen sie meistens drinnen. Als wir nach Potsdam kamen, haben wir gesehen, dass die Kinder hier nachmittags nichts lernen müssen. Sie dürfen einfach draußen auf dem Spielplatz spielen, ganz frei. Das war für uns neu und sehr angenehm.
Avishkar: Wir lassen unsere Kinder einfach Kinder sein. Und dennoch: Evaan ist ein sehr neugieriger Junge. Er lernt gerne. Aber nicht, weil wir ihn dazu zwingen, sondern weil er es von innen heraus möchte. Er baut gerne LEGO, spielt Schach und interessiert sich für Elektronik und Programmierung. Aktuell baut er an einem Bewegungsmelder auf Basis der Arduino-Technologie. Ich helfe ihm dabei, die Technik zu verstehen. Einmal pro Woche geht er zu einer Robotik AG in Potsdam. Außerdem besuchen wir gerne Events für Robotik für Kinder, zum Beispiel im Planetarium Berlin.
Wie vermittelt ihr euren Kindern eure indischen Wurzeln?
Nilima: Uns ist es wichtig, dass sie viel über ihre indische Herkunft wissen. Also ist es unsere Aufgabe, ihnen die indische Kultur beizubringen. Dafür lesen wir zum Beispiel indische Bücher in unserer Muttersprache. Und wir reisen regelmäßig nach Indien. Dort können wir unseren Kindern alles direkt zeigen – die Orte, das Essen, die Tempel. So verstehen sie viel besser, was die Geschichten, die wir ihnen zu Hause vorlesen, bedeuten.
Avishkar: Und wir feiern unsere indischen Feste, etwa das Diwali, das hinduistische Lichterfest. Es ist das größte Fest in Indien und dauert mehrere Tage und ist ein bisschen wie Weihnachten und Neujahr in einem. Und das Holi-Fest, das Fest der Farben und gleichzeitig das Frühlingsfest in Indien. Aber während in Indien tausende Menschen auf den Straßen tanzen und sich mit Farben bewerfen, haben wir das ganz klein bei uns im Garten gefeiert. Wenn die Kinder erwachsen sind, können sie gerne die großen Holi-Festivals besuchen, die sind sehr angesagt.
„Wir kochen zu Hause natürlich viele indische Gerichte, aber es schmeckt irgendwie immer anders.“
Was vermisst ihr am meisten aus Indien?
Beide: Das Essen!
Nilima: Unser indisches Essen ist sehr besonders. Wir kochen zu Hause natürlich viele indische Gerichte, aber es schmeckt irgendwie immer anders. Erstens, weil wir in Indien mit echtem Feuer kochen und hier mit einem elektrischen Herd. Zweitens, die typischen indischen Gewürze gibt es hier gar nicht zu kaufen. Natürlich vermissen wir auch unsere Familie sehr stark.
Kommt euch eure Familie in Potsdam besuchen?
Nilima: Diesen Sommer reisen wir erstmal nach Indien, aber nächstes Jahr planen wir, Avishkars Eltern herzuholen. Das geht aber nur im Sommer, wenn es in Deutschland ganz heiß ist. Denn in Mumbai ist es im Winter nicht so kalt, und weil sie schon älter sind, würden sie mit der Kälte hier nicht zurechtkommen.
Welche Rolle spielt Religion in eurem Leben?
Avishkar: Wir beten morgens und abends, aber weniger aufgrund einer bestimmten Religion, sondern aus spirituellen Gründen.
Nilima: Ja, wir glauben daran, dass es eine Energie gibt, die uns beschützt. Jeder Mensch hat diese Energie und darum ist es wichtig, jeden Menschen zu respektieren – egal, wie jemand aussieht, was er oder sie trägt oder wie jemand wohnt. Wir bringen unseren Kindern bei, dass das Universum uns Energie schenkt, damit wir anderen Menschen helfen können. Was Religion angeht, sind wir sehr offen. Wir feiern auch Ostern oder Weihnachten.
Habt ihr Kontakt zu anderen indischen Familien oder Communities in der Region?
Nilima: Ja, wenn wir unsere Heimat vermissen, rufen wir unsere Freunde an und kochen gemeinsam. Wir laden auch gerne Freunde aus anderen Religionen ein. Sie freuen sich immer darüber, mit uns gemeinsam zu essen und sich auszutauschen. Diesen Zusammenhalt sollen unsere Kinder erfahren und verstehen. Als Enera geboren wurde, haben wir ein großes Fest gefeiert. Bei uns ist es Tradition, die neugeborene Seele vierzig Tage nach der Geburt willkommen zu heißen. Also haben wir eine Party organisiert, trugen traditionelle indische Kleidung und haben mit unseren Freunden getanzt. Das war toll!
Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Avishkar: Wir wollen noch mehr reisen. In vielen Ländern waren wir schon, aber wir wollen Europa und die anderen Kontinente besser kennenlernen.
Nilima: Unsere Kinder sollen neue Orte und Menschen entdecken. Auf Reisen lernen sie unglaublich schnell. Wenn wir ein langes Wochenende haben, sind wir immer unterwegs. Dabei ist von Camping bis All-Inclusive alles drin. Wir wollen unseren Kindern diese Flexibilität vermitteln. Sie sollen nicht nur eine bestimmte Lebensweise kennenlernen, sondern alles verstehen, alles probieren und aufgeschlossen sein.
Vielen Dank für die spannenden Einblicke und alles Gute für euch!
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