Von “Einzelfallhilfe” habt ihr vielleicht schon einmal gehört – in Zeiten von inklusivem Lernen stehen Kindern z.B. mit Lernschwierigkeiten oder Behinderungen Einzelfallhelfer:innen zur Seite, um sie im (Schul)-Alltag zu unterstützen. Viele solcher Helfer:innen werden von Potsdam aus in ganz Berlin und Brandenburg von der Einzelfallhilfe-Manufaktur e.V. vermittelt. Aber das Team möchte noch viel mehr erreichen – am 10. und 11. Mai steigt deshalb in der Schiffbauergasse das erste AkzepTanzFestival – ein großes Fest für die ganze Familie! Mehr dazu und zur Arbeit der Einzelfallhilfe-Manufaktur erfahrt ihr in unserem Interview mit Geschäftsführer Oliver Käding und Nadja Altnickel, Leiterin Öffentlichkeitsarbeit & Fundraising.
Lieber Herr Käding, seit wann gibt es die Einzelfallhilfe-Manufaktur und wie kam es dazu?
Oliver Käding: Ich habe sie vor 13 Jahren mit meinem Kollegen Alexander Kolbe gegründet. Wir sind beide gelernte Erzieher / Sozialpädagogen und kommen aus dem Bereich der Behindertenbetreuung. Alexander war bei einem anderen Träger, aber durch verschiedene Zufälle haben wir zueinander gefunden und sind auf die Idee gekommen, den Verein zu gründen.
Was macht Ihr Verein genau?
Unsere Hauptarbeit liegt in der Schul- und Kitabegleitung. Wir unterstützen etwa 300 Kinder und Jugendliche in ganz Berlin und Brandenburg in ihrem Alltag. Deshalb haben wir inzwischen auch an die 300 fest angestellte Mitarbeiter, denn zu 95 Prozent sind es 1:1-Betreuungen, d.h. jeder Klient hat einen Helfer. Die Unterstützung richtet sich dabei immer nach dem Bedarf des Klienten. Bei einer körperlichen Behinderung helfen wir z.B. bei Raumwechseln und übernehmen pflegerische Tätigkeiten. Bei kognitiven Einschränkungen oder seelischer Behinderung ermöglicht unsere Begleitung die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Schule oder Kita. Beim Verstehen von Inhalten, Kontakt und Kommunikation mit Mitschülern, dem Finden von Freunden.
Das ist ja teilweise sehr komplex, welche Ausbildung braucht man dazu eigentlich?
Eine bestimmte Ausbildung ist nicht gefordert, das richtet sich immer nach dem Bedarf des Klienten. Für die Unterstützung bei einfachen körperlichen Behinderungen setzen wir auch Quereinsteiger ein. Hat das Kind eine seelische Behinderung, z.B. als Autist, oder handelt es sich um ein traumatisiertes Kind mit psychischen Einschränkungen, unterstützen ausgebildete Sozialpädagogen.
Wie finden die Eltern zu Ihnen?
Am Anfang steht immer eine Beratung, z.B. über die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB) oder Kostenträger wie Sozial- und Jugendämter. Das Antragsverfahren ist recht komplex, am Ende gibt es eine Entscheidung, ob Unterstützung gewährt wird und falls ja, in welchem Umfang und welche Qualifikationen notwendig sind.
Damit können sich die Eltern dann an uns wenden, wir bieten alles von Ganztagsbegleitung bis zu punktueller Hilfe von fünf bis zehn Stunden die Woche. Die Nachfrage ist sehr groß, aktuell haben wir sehr viele offene Anfragen auf dem Tisch. Wir suchen eigentlich kontinuierlich nach neuen Mitarbeitern in gesamt Berlin und Brandenburg für verschiedene Einsatzorte und Qualifikationen.
Wie lange wird ein Kind dann begleitet und gibt es eigentlich eine Art Probezeit für beide Seiten? Man verbringt dann ja mitunter sehr viel Zeit zusammen.
“Es ist schön, Klienten über mehrere Lebensabschnitte zu begleiten.”
Ja, es muss definitiv von beiden Seiten harmonieren. Es gibt immer Kennenlerntreffen vorab und wenn beide Seiten ein gutes Gefühl haben, geht es los. Die Betreuung läuft dann so lange, wie der Bedarf besteht. Es gibt z.B. Kinder mit Diabetes, wo regelmäßiges Messen und Spritzen notwendig ist. Das können die Kinder irgendwann allein und unsere Arbeit ist erledigt. Kinder mit gravierender Behinderung betreuen wir über die gesamte Schulzeit. Es gibt einen jungen Erwachsenen, den wir seit der Gründung, also seit 13 Jahren, betreuen. Inzwischen wohnt er in einer unserer beiden Wohngemeinschaften mit betreutem Wohnen, die wir in Potsdam betreiben. Dieses Vertrauen in unsere Arbeit freut uns natürlich sehr und Klienten über mehrere Lebensabschnitte zu begleiten ist eine tolle Erfahrung. Dies bekommen wir auch immer wieder von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gespiegelt.
Auch “Mitarbeiterfürsorge” spielt bei Ihnen eine Rolle. Was verbirgt sich dahinter?
Das Thema ist uns ein großes Anliegen. Man kann nur gute Leute gewinnen, wenn man auch etwas für sie tut. Mit regelmäßigen Fortbildungsangeboten investieren wir in die Mitarbeiterentwicklung. Wir unterstützen durch Qualifikationen und streben an, Führungs- und Leitungspositionen aus dem eigenen Mitarbeiterkreis heraus zu besetzen. Aber auch in die körperliche und mentale Gesundheit z.B. durch Sportangebote wie Ninjitsu-Training, Meditation oder Yoga ist fester Bestandteil des Arbeitsalltags.
Liebe Frau Altnickel, im Mai soll nun das erste AkzepTanzFestival steigen. Wie kam die Idee dazu?
“In diesem Jahr machen wir ein zweitägiges Festival daraus!”
Nadja Altnickel: Seit Bestehen des Vereins gab es jedes Jahr ein Sommerfest, das einfach immer größer wurde. Erst ein Grillfest, dann ein Straßenfest, im letzten Jahr als Inklusionsfest auf dem Alten Markt. Es ging uns immer schon darum, dass Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam eine gute Zeit verbringen. Die Stadt Potsdam veranstaltet seit einigen Jahren die Inklusionstage und man kann seine Veranstaltung an die Beauftragte für Menschen mit Behinderung, Dr. Tina Denninger, melden. Und wir dachten uns, in diesem Jahr stellen wir es auf die nächste Stufe und machen ein zweitägiges Festival daraus!
Was erwartet uns am 10. und 11. Mai?
Ein großes Musik- und Familienfest. Es wird auf dem Open Air Gelände des Waschhaus in der Schiffbauergasse zum einen ein großes inklusives Bühnenprogramm geben mit zehn sensationellen Bands. Es sind einige Künstler dabei, die selbst eine Behinderung haben. Rapper Graf Fidi sitzt z.B. im Rollstuhl und auch der Sänger der Band Fheels aus Hamburg. Sängerin Fia, die einige vielleicht von “The Voice Kids” kennen, gebärdet ihren Gesang parallel. Sie hat eine schwerbehinderte Schwester, die nicht hören und sprechen kann, und wollte ihr und anderen durch die Gebärden die Möglichkeit geben, den Gesang auch zu verstehen.
Am Freitag haben wir einige “Local Heros” aus Potsdam und Umgebung und aus Berlin. Zum Beispiel die Lex Barker Experience, eine echte Potsdamer Legende. Ein Highlight am Samstag ist auch Kaffkiez, aktuell Platz 3 in den Albumcharts. Wirklich gute Musik war uns für das Festival sehr wichtig. Als Moderatorinnen konnten wir Gina Rühl gewinnen, auch bekannt als die “Einarmige Prinzessin”. Sie hat bei einem schweren Verkehrsunfall einen Arm verloren. Sie ist trotzdem ihren Weg gegangen und wurde 2022 Vize Miss Germany. Liki & die Lichterkinder werden das Festival am Freitag um 14:30Uhr eröffnen und zusammen mit den anwesenden Kindern für Stimmung sorgen.
Was ist neben dem Bühnenprogramm geplant?
Es präsentieren sich neben uns verschiedene andere Initiativen und Vereine, die im Bereich der Inklusion tätig sind, z.B. Sportvereine wie auch die Special Olympics und andere inklusive Sportangebote. Der SV Babelsberg 03 wird ein kleines inklusives Fußballturnier veranstalten, Kultür ist mit einem Kreativangebot dabei. Der Deutsche MS Verband wird eine Fühlstraße aufbauen, anhand der man nachfühlen kann, wie die Nerven bei Multiple Sklerose funktionieren. Die VHS bringt ihr ALFA-Mobil mit und informiert zum Thema Grundbildung und Alphabetisierung – z.B. was das für ein Gefühl ist, wenn man nicht lesen kann und die Buchstaben keinen Sinn ergeben. All das soll Verständnis und Akzeptanz fördern. Zudem kann man eigene Festival-T-Shirt bedrucken und selbstverständlich darf auch das Kinderschminken nicht fehlen. Und natürlich gibt es auch Foodtrucks, auch mit veganen Varianten, und ein vom Waschhaus organisiertes Getränkeangebot.
Sie planen selbst auch schon das nächste große Projekt, das auch auf dem Festival vorgestellt werden soll: den ersten inklusiven Spielplatz für Potsdam!
Ja, er soll endlich kommen! Der als “Mausefalle” bekannte Spielplatz in der Jägerallee in der Potsdamer Innenstadt ist sanierungsbedürftig und die Stadt Potsdam überlässt uns eine inklusive Neugestaltung. Auf dem Festival können uns alle zeigen, malen, bauen und beschreiben, wie sie sich ihren Spielplatz vorstellen. Auch Spenden sind herzlich willkommen, um uns bei der Finanzierung der Ideen zu unterstützen.
Apropos Geld – wie hoch wird bei diesem hochkarätigen Programm der Eintritt sein?
“Wir möchten Barrieren abbauen.”
Der Eintritt ist frei, weil auch dieser eine Barriere wäre. Wir möchten jedoch Barrieren abbauen. Sehr gern darf jedoch vor Ort ein freiwilliger Eintritt gespendet werden. Barrierefreiheit wird auch sonst groß geschrieben: Die Location haben wir deshalb ausgewählt, weil sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln gut zu erreichen ist und die Tramstationen barrierefrei sind. Dazu gibt es ein Parkhaus für alle, die für ihre Anreise das Auto brauchen. Es gibt viele Sitzmöglichkeiten, behindertengerechte WC-Anlagen, ein Leitsystem und rollstuhlgerechte Kabelbrücken und dazu eine extra große Plattform für Rollstühle, damit das Programm gut gesehen werden kann. Wir werden Gebärdendolmetscher vor Ort haben und auch sogenannte “Feelbelts”. Mit diesen Gürteln werden Vibrationen am Körper spürbar und Musik auch für Gehörlose erlebbar gemacht.
An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Unterstützern bedanken, ohne deren Umsetzung ein solch großen Vorhabens nicht möglich gewesen wäre. Wer Lust hat, kann natürlich noch unterstützen, auch mit Blick auf das Akzeptanzfestival 2025. Es wäre doch schön, wenn das Akzeptanzfestival zu einem festen Bestandteil des Potsdamer Kulturangebots wird.
Wir sind sehr beeindruckt. Und all das organisieren Sie neben Ihrem eigentlichen Job – Hut ab!
Oliver Käding: Wir wollen uns nicht nur um die Menschen kümmern, sondern es geht uns auch um Aufklärung und Sichtbarmachung im Alltag. Wir wollen das Thema mehr in die Öffentlichkeit holen mit Projekten und Aktionen. Unsere Vision ist es, Potsdam zur Inklusionshauptstadt zu machen.
Wir wünschen Ihnen dabei weiterhin viel Erfolg und freuen uns schon sehr auf den 10. und 11. Mai und das erste AkzepTanzFestival in Potsdam!
Kommt vorbei! Das komplette Programm findet ihr unter → akzeptanzfestival.de
Unterstützt diese tolle Initiative unbedingt vor Ort mit einer großzügigen Spende oder spendet jederzeit online für das AkzepTanzFestival!
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